SCHACHMATT
Das Schlachtfeld
Mittwoch, 23. Februar: ein Uhr bis fünf Uhr
»Bring diese Maschine runter! Irgendwann müssen Sie doch auf diesem Scheißschiff landen!«
Papanin brüllte seinen Befehl, um sich dem Piloten über das Dröhnen der Rotoren hinweg verständlich zu machen, während der Hubschrauber unentschlossen über dem 16000-Tonnen-Forschungsschiff Revolution schwebte. Die Maschine kippte, von einer Windbö gestoßen, seitwärts. Papanin stand aufrecht und griff schnell nach seinem Sitz, um sich festzuhalten. Dämlicher Anfänger! Die sogenannten Piloten, die die Fliegerschule heutzutage absolvierten, waren eine Schande. Hinter dem Piloten klammerte sich Kramer aufgeregt an seinen Klappsitz: Er haßte das Fliegen, und dieser Flug war besonders turbulent gewesen. Der Pilot bekam die Maschine wieder unter Kontrolle und sprach mit dem Sibirier, ohne ihn anzuschauen.
»Es wäre besser, wenn Sie sich hinsetzen würden, Herr Oberst!«
»Es wäre besser, wenn wir schon an Bord des Schiffes wären. Bring sie runter, habe ich gesagt!«
»Die Landebedingungen sind sehr schlecht. Es ist zu gefährlich. Ich habe genug Treibstoff, um oben zu bleiben…«
Papanin setzte sich in den Beobachtersitz neben den Piloten, schob sein Gesicht sehr nah an das Gesicht des Piloten heran und sprach sehr deutlich: »Ich befehle Ihnen, auf dem Schiff zu landen. Ich habe keine Zeit, hier oben in der Luft zu hängen, nur weil Sie eine See brauchen, die so glatt ist wie ein Kinderpopo! Runter jetzt!«
Er wandte sich von dem Piloten ab und schaute auf den Ozean herunter. Der Anblick flößte kaum Vertrauen ein. Das riesige Forschungsschiff, das Paradestück der sowjetischen Handelsmarine, schaukelte in der starken Dünung. Die wuchtige Radarkuppel hinter der Brücke glänzte im Mondlicht wie eine geisterhafte Moschee mitten in der See. Hundert Meter unter dem Hubschrauber ritt das Schiff auf hohen Wellen, die nach Süden rollten. Der ganze Rumpf kippte vornüber und sackte in das Wellental. Die Spitze der Radarkuppel neigte sich zur Seite, verharrte kurz in dieser Lage und richtete sich wieder auf, als der Seegang das Schiff erneut anhob. Es war nicht weit von dem Eisfeld, und Eisschollen trieben auf den Wogen, die auf den Kamm der Wellen stiegen und gegen den Bug schlugen. Der Hubschrauber begann seinen Abstieg.
Das Gesicht des Piloten spannte sich. Er lehnte sich weit nach vorn, um die Radarkuppel sehen zu können. Unter diesen gefährlichen Bedingungen war die Kuppel sein einziger Anhaltspunkt, die Landerampe zu finden, die direkt hinter der Kuppel lag. Er mußte genau im richtigen Augenblick auf der Rampe aufsetzen – wenn sie in der Waagerechten war – da sie sonst seitwärts umkippen würden. Vom Wind hochgepeitschte Gischt spritzte über das Plexiglas und nahm ihm die Sicht. Da der Pilot den Blick des Sibiriers spürte, setzte er den Abstieg fort. Irgend etwas, das aussah wie ein riesiges Pendel, schwankte vor der Scheibe. Es war der Mastkorb mit dem Radargerät an der Spitze. Der Mast war überladen mit elektronischen Apparaturen. Die Revolution, offiziell als das größte Forschungsschiff der Welt vom Stapel gelaufen, war in Wirklichkeit das größte Spähschiff der Sowjetunion.
Die Maschine fiel weiter nach unten. Die Radarkuppel, die mit der Brandung hin und her schaukelte, nahm fast die ganze Sicht ein; aber der Pilot nahm sie kaum wahr: Er beobachtete den Mastkorb dahinter, der sich senkrecht aufrichtete. Wenn er einige Sekunden lang in der Senkrechten stehen blieb, würde die unsichtbare Laderampe waagerecht sein. Die Kufen unter dem Fahrgestell trafen mit einem heftigen Stoß auf die Rampe. Wartende Techniker eilten auf den Hubschrauber zu und befestigten die Ankerbolzen. Der Sibirier öffnete die Tür, während sich die Rotoren noch drehten, und schaute zu dem Piloten zurück.
»Sehen Sie! Man weiß nie, was man alles kann, bis man es einmal versucht hat.«
Er sprang auf das Deck, wobei der Pilot ihn noch wütend anfunkelte, duckte sich, um nicht an die Rotorblätter zu geraten, und spreizte seine langen Beine, um sich im Gleichgewicht zu halten. Dann ging er weiter, mit den Händen die Reling umklammernd, als eine riesige Welle über das Deck brach. Er hielt sich an der Reling fest und atmete nicht, bis das Wasser zurückfloß. Eiszapfen hingen an seinen Ärmeln, als er sich die Leiter hochzog, die zu der großen Brücke führte. Kapitän Anatoli Tuchewski, der Kommandeur des Schiffes, öffnete die Tür, um ihn hereinzulassen.
»Oberst Papanin!« Der Sibirier zog seinen durchnäßten, tropfenden Parka aus und ließ ihn auf den Boden fallen. »Sie sind Tuchewski? Schön. Frische Kleider, bitte. Irgend etwas vom größten Matrosen an Bord. Warum fahren Sie in diesem Schneckentempo?«
Tuchewski, ein hagerer, reservierter Mann mit einem bärtigen, grimmigen Gesicht, war sehr besorgt über die Vorgänge auf seinem Schiff. Er gab Befehl, frische Kleidung zu bringen, und führte Papanin in den Navigationsraum hinter der Brücke. Er schickte einen Offizier fort, der hier mit Karte und Zirkel beschäftigt war, schloß die Tür und wandte sich dem Sibirier zu.
»Ich muß heftigen Protest einlegen…«
»Bereits notiert.«
»Ich habe Ihnen noch nicht gesagt, weswegen…«
»Interessiert mich nicht!«
»Für ein Schiff dieser Größe befinden wir uns in gefährlichem Gewässer…«
»Was gibt es sonst noch Neues?« Papanin streifte die Überhandschuhe und die Fäustlinge darunter ab und legte sie auf den Tisch. Er setzte seine Brille auf und schaute auf die Karte. Er nahm einen Bleistift und markierte etwas mit einem Kreuz. »Der amerikanische Eisbrecher Elroy war ungefähr hier, als ich ihn zuletzt gesehen habe. Er wird jetzt dabei sein, sich einen Weg aus dem Eis heraus zu brechen. Er wird direkt Süd fahren…« Er zeichnete eine grobe Linie in die Karte hinunter. »Wir werden weiter direkt Nord fahren.« Sein Bleistift zog die Linie wieder hoch. »Bringen Sie uns auf diesen Kurs. Und sorgen Sie dafür, daß Ihr alter Pott in Fahrt kommt!«
Tuchewski nahm seine Mütze ab und ließ sie auf die Karte fallen, um den Sibirier daran zu hindern, weitere Markierungen vorzunehmen. Er verschränkte die Arme und sah Papanin direkt in die Augen. »Ich bin der Befehlshaber dieses Schiffes. Ich habe zwar den Befehl, Sie zu empfangen, Ihre Anweisungen zu befolgen – aber noch führe ich das Kommando…«
»Natürlich!« Papanin überragte den ein Meter fünfundsechzig großen Tuchewski. Er grinste auf ihn herab. »Ich lade die Gewehre, und Sie feuern sie ab!« Er setzte sich auf den Boden, zog erst einen und dann den anderen Stiefel aus und grinste immer noch den Kapitän an.
»Ich möchte eine offizielle Beschwerde über diesen Befehl, direkt Nord zu fahren, einlegen«, fuhr Tuchewski mit gereizter Stimme fort. »Die Revolution ist unser modernstes und neuestes Forschungsschiff. Sie hat Millionen von Rubeln gekostet. Und trotzdem erhalte ich den Befehl, dieses Schiff in Gewässer zu fahren, in denen es von Eisbergen wimmelt…«
»Die Elroy hat es geschafft – streckenweise sogar ohne Radar. Ich habe gesehen, daß sie ihre Ausrüstung am Mastkorb verloren hat. Sie haben noch diesen verdammten rotierenden Wirbelwind an der Spitze Ihres Mastes – machen Sie Gebrauch davon!« Papanin stand auf und fing an, auf Strümpfen in dem Navigationsraum herumzutappen und sich alles anzusehen. »Ich möchte den Offizier sprechen, der für Funkstörung verantwortlich ist«, setzte er fort. »Wir werden eine kurze Pause einlegen, um der Gorki zu funken – alle Hubschrauber sollen die gegenwärtige Position der Elroy feststellen. Der erste, der sie findet, soll sofort hierherfliegen, um Bericht zu erstatten.«
»Warum?« brauste Tuchewski auf. »Warum eine solche Wahnsinnstat? Ich werde sofort einen Protest nach Moskau funken.«
»Das werden Sie nicht tun!« Papanin blickte ihn über die Schulter an. »Die Unterbrechung der Störaktion wird nur kurz dauern – aber lange genug, um der Gorki meinen Befehl zu funken. Die Elroy fährt südlich auf Gewässer zu, die voll von Eisbergen sind. Sie wird außerdem blind fahren – ihr Radar ist verschwunden. Für die Außenwelt existiert sie so gut wie überhaupt nicht – die Funkstörung hat sie isoliert. Lassen Sie mir bitte etwas Tee bringen, Tuchewski, und ich werde Ihnen erzählen, worum es geht.« Der Sibirier machte eine Pause. »Verstehen Sie, wir werden der Elroy den Weg versperren.«
Um vier Uhr morgens, nach nur drei Stunden Schlaf, wurde Beaumont geweckt von dem wiederholten donnernden Aufprall des Bugs auf das Eis. Hätte es draußen ein Erdbeben gegeben, wäre die Wirkung sanft gewesen im Vergleich zu dem Beben und dem mahlenden Geräusch, mit dem das Schiff sich durch das Packeis bohrte und das ihn weckte. Von allen Männern an Bord bekam es Beaumont mit größter Wucht zu spüren; seine Kabine, das einzig verfügbare Quartier außer einer Kabine in der Mitte des Schiffes, die er Grayson und Langer überlassen hatte, befand sich im Bug.
Er blinzelte verschlafen und wunderte sich, warum die Wände der Kabine vibrierten, als ob eine ungeheure Kraft die Täfelung durchbrechen und auf ihn herabstürzen würde. Er blickte auf die Uhr. Vier Uhr. Er hatte drei Stunden geschlafen, seitdem er an Bord gekommen war. Die Vibration der Kabinenwände ließ ein wenig nach, aber das widerhallende Krachen klang noch in seinen Ohren, als die Tür aufging und Pat Da Silva, der Maat, vorsichtig hineinspähte, einen Becher heißen Kaffee in der Hand.
»Ich wußte nicht, ob Sie schon wach sind«, sagte er mit ernster Stimme. »Und Sie trinken den Kaffee lieber schnell, bevor das Rammen wieder losgeht.«
»Danke.« Beaumont nahm den Becher und nippte vorsichtig an dem Kaffee, während er Da Silva beobachtete. Der Maat war klein und untersetzt, etwa vierzig Jahre alt, mit schwarzem lockigem Haar und einem breiten Kopf. Der erste Eindruck war, daß er zäh und kompromißlos war, aber ein Anflug von Humor lag in seinen ruhigen grauen Augen, wenn man ihn länger betrachtete. Beaumont nahm einen ordentlichen Schluck von der kochendheißen Flüssigkeit. Amerikanischer Kaffee, sehr stark.
»Es geht schon wieder los«, warnte Da Silva, während er sich an dem Türrahmen festhielt. Das Schiff bewegte sich vorwärts, die Motoren dröhnten mit voller Kraft. Direkt hinter der Wand der Kabine lag der Bug und dahinter das Eis. Der verstärkte Bug durchschnitt jetzt schwarzes Wasser. Beaumont streckte seine Hand aus und wartete. Sein Kaffeebecher war schon dreiviertel leer. Er stemmte die andere Hand gegen das Fußende der Koje. Das Schiff rammte das Eis.
Die Kabine zitterte von dem gewaltigen Zusammenstoß. Da Silva verlor fast seinen Halt und wäre durch die Kabine geschleudert worden, wenn er sich nicht rechtzeitig gefangen hätte. Beaumont hatte das Gefühl, als würde der Bug aufbrechen und die Täfelung sich wölben, als würde die Kabinenwand in den nächsten Sekunden zusammenfallen und eine Lawine zerbröckelten Eises sie verschütten. Aber er wußte, daß es nicht passieren würde: Er war auf einem Eisbrecher. Das Schiff blieb stehen, die Motoren pochten weiter. Beaumont betrachtete den verspritzten Kaffee auf der gegenüberliegenden Wand. »Kommen wir vorwärts?« fragte er.
»Kaum. Das geht seit über einer Stunde so – wie Sie dabei schlafen konnten, ist mir schleierhaft –, und wir sind festgefahren. Das Problem ist, daß wir nicht mir das Radar eingebüßt haben, sondern auch der Ausguck untergegangen ist… Mit dem Steuermann«, fügte Da Silva sachlich hinzu. »Weshalb ich zum Steuermann vom Dienst befördert wurde. Aber ich hätte gern darauf verzichtet – Carlson war ein prima Kerl. Wir brauchten jemanden im Mastkorb«, erklärte er, »der uns sagen könnte, mit welchem Winkel wir das Eis rammen sollen. Der Haken ist nur, daß es keinen Mastkorb mehr gibt, auf den wir jemanden schicken könnten.«
Während das Schiff sich aus dem Eis zurückzog, zog Beaumont Stiefel und Parka an. Die Kabine vibrierte wieder; das mahlende, knirschende Geräusch von Stahl, der sich dem Schraubstock des Packeises entzog, war entsetzlich.
»Ich gehe auf die Brücke. Ich möchte sehen, was los ist«, sagte Beaumont, während er den Parka zumachte. Er blickte dem Maat direkt ins Gesicht. »Hab’ ich’s mir nur eingebildet«, forschte er, »oder war die Begeisterung tatsächlich nicht so groß, als wir an Bord kamen?«
Da Silva war die Frage unangenehm. »Machen Sie sich am besten nichts draus.« Er zögerte. »Schmidt war tatsächlich nicht gerade erfreut darüber, das Schiff im Februar so weit nördlich führen zu müssen. Es heißt, er hätte einen strikten Befehl aus Washington erhalten – um jeden Preis nach Norden, und scheiß auf die Konsequenzen. Er nimmt es Ihnen irgendwie übel, daß Sie überhaupt leben, daß Sie ihn hierher verfrachtet haben.«
»Einige von der Crew auch?«
»Vielleicht ein paar Männer. Wir waren auf dem Weg nach Hause, nach Milwaukee, als der Befehl durchkam. Sie werden es schon verwinden…«
Aber noch war es nicht soweit. Beaumont spürte die Feindseligkeit um sich herum, als er auf die Brücke ging. Er hätte blind und gefühllos sein müssen, um sie nicht zu bemerken. Matrosen, an denen er vorbeiging, ignorierten ihn völlig. Ein stämmiger Bursche, der in einem Gang nach unten auf Händen und Knien den Boden schrubbte, schob Beaumont seinen Eimer in den Weg.
»Nimm den Eimer weg, Borzoli, schnell!« schnauzte der Maat.
Der stämmige Maat schaute auf. »Ich habe dich nicht gesehen, Pat…« Er schob den Eimer zur Seite. Es war nicht nur, daß man sie die Eisberg-Gasse hinaufgeschickt hatte, überlegte Beaumont, während er eine Treppe hinaufging. Da Silva hatte ihm nicht die ganze Wahrheit erzählt. Man gab ihm die Schuld an Carlsons Tod. Es sah aus, als könnte dieser bedauerliche Unfall die ganze Fahrt verderben; die Männer auf einem Eisbrecher waren nicht gerade die sanftesten Typen unter den Seeleuten. Kapitän Schmidts erste Bemerkung war auch nicht eben ermutigend.
»An Ihrer Stelle, Beaumont, würde ich in meinem Quartier bleiben. Sie brauchen Ruhe.«
Von der oberen Brücke hatte man eine gute Sicht auf das Eis vor dem Schiff, das durch die Wasserrinne fuhr, um noch einmal das Packeis zu rammen. Die bestehende Rinne war wenigstens so gewesen, daß Schmidt sein Schiff hatte wenden können, bevor er das Packeis attackierte, um den Weg nach Süden freizubekommen. Am Ende der Rinne war das Eis angeschlagen, aber noch intakt, und das Rammen des Bugs hatte noch keine Bresche hineinschlagen können. Beaumont ließ die Reling los, an der er sich festgehalten hatte, und sah Schmidt an. »Wir stecken in der Patsche. Um diese Jahreszeit wird sich noch mehr Eis bilden – und wenn wir nicht bald rauskommen, werden wir hier feststecken, bis der Frühling kommt…«
»Glauben Sie, das wüßte ich nicht?« Die Augen des Kapitäns unter der Schirmmütze starrten Beaumont düster an. »Gegen mein besseres Wissen sind wir Ihretwegen hierhergekommen. Auf Ihre Ratschläge kann ich also gut verzichten.«
»Sie brauchen einen Mann hoch oben«, beharrte Beaumont, »Dreißig Meter hoch, um den besten Winkel zum Rammen zu erkennen, einen, der das kleinste Anzeichen einer Spalte entdecken kann, um uns zu sagen, wo wir das nächste Mal ansetzen müssen…«
»Kommen Sie mit!«
Schmidts Gesichtsausdruck war noch düsterer, als er den Befehl gab, das Schiff anzuhalten, und dann die Brücke rasch verließ. Sie stiegen rückwärts eine glatte Leiter hinab, die erst kürzlich von Eis befreit worden war. An Deck schaufelten ganze Gruppen von Männern das Eis über die Seiten, große Eisplatten, die andere Matrosen mit Brecheisen von dem Deck abhoben. Die Sikorsky der Elroy setzte gerade zur Landung an, schwebte über der Landerampe hinter der Brücke und stieg ab. »Wir behalten die Russen draußen auf dem Eis im Auge«, sagte Schmidt bissig. »Wie Sie vorgeschlagen haben«, fügte er widerwillig hinzu. »Ein sowjetischer Hubschrauber hat sie vor einer halben Stunde herausgeflogen.« Sie waren am Fuß des riesigen Mastes angelangt. »Schauen Sie ihn sich gut an«, brummte Schmidt.
Die gewaltige Konstruktion ragte in das Mondlicht auf. Dreißig Meter über ihnen war die Spitze des Mastes gezackt und abgebrochen. Es sah aus, als wäre er gegen eine Hauswand gestoßen. Die Saling darunter war noch heil, und trotz der Höhe konnte Beaumont sehen, daß sie mit Eis überzogen war. Ein Matrose kippte eine gewaltige Eisscheibe um, die er mit seinem Brecheisen angehoben hatte. Sie krachte wenige Zentimeter neben Beaumonts rechtem Fuß herunter, aber nur, weil Beaumont seinen Fuß rechtzeitig weggezogen hatte. »Wenn du das noch mal machst«, brüllte Schmidt, »steck ich dich in Arrest. Geh nach Backbord!« Er wartete, bis der Matrose gegangen war, bevor er etwas sagte. »Sie haben Carlson alle gemocht«, erklärte er.
»Und sie machen mich für seinen Tod verantwortlich?«
»Das habe ich nicht gesagt. Aber sehen Sie sich das doch an, um Gottes willen. Und Sie meinen, ich soll einen Mann da hinaufschicken!«
Eine Metalleiter führte an dem eisverkrusteten Mast hoch. Die Sprossen waren mit glänzendem Eis verkrustet, die Takelage war mit Eis behangen, drei Meter lange Eiszapfen hingen von den Spitzen der Saling. Vom Deck aus gesehen, erschien der Mast Beaumont wie ein mysteriöser Hochspannungsmast aus Glas. Auf jeden Fall sah er vollkommen uneinnehmbar aus.
»Ich habe nicht gesagt, daß Sie einen Mann hochschicken sollen«, erwiderte Beaumont. »Ich komme schon selbst hoch. Ich brauche einen Lederriemen, um mich anzuschnallen, Segeltuchpolsterung um den Mast und ein Sprechfunkgerät für die Verbindung mit der Brücke…«
»Und einen Sarg für Ihre Beerdigung«, fügte eine Stimme hinter ihm hinzu.
»Das ist Quinn, der Hubschrauberpilot«, stellte Schmidt barsch vor. Beaumont schüttelte Quinn die Hand, der erste Mann, der ihm diese Höflichkeit entgegenbrachte, seitdem er an Bord gekommen war. Quinn, schlank, schlaksig und Anfang Dreißig, wiederholte seine Warnung.
»Sie hätten eigentlich schon auf dem Eis sterben sollen. Das sind Sie nicht – also bleiben Sie besser in Ihrer Kabine, bis wir Quebec anlaufen. Wir werden eines Tages ankommen.«
Schmidt starrte resigniert auf den Mast. »Das brauchten wir schon – einen Mann dort oben. Aber wozu sollten Sie da oben gut sein?«
»Dieselbe Aufgabe habe ich auf Ihrem Schwesterschiff, der Exodus, ausgeführt«, antwortete Beaumont gelassen. »Vor drei Jahren, nördlich der Baffin-Bucht. Sie versuchte, die Smith-Enge hinaufzufahren, und geriet in ähnliche Schwierigkeiten – massives Eis vor ihr. Ich kannte das Gebiet, und deswegen bin ich auf den Mast geklettert und habe sie hindurchgeführt.«
»Das ist MacDonalds Schiff.« Schmidt starrte zuerst Beaumont und dann den Maat an. »Eine Sprechverbindung haben wir bereits oben, und der Mast ist auch schon gepolstert – Da Silva war oben, um eine Lücke im Eisfeld zu suchen, aber ich habe ihn wieder heruntergeholt, bevor wir anfingen, auf das Packeis einzuhämmern.«
»Mac war der Kapitän, als ich auf der Exodus war.« Beaumont lächelte trocken. »Er hat mir danach eine Art Kinderausweis ausgestellt, der besagte, daß ich als Lotse in der Smith-Enge fungieren durfte. Und ich bin der Meinung, daß wir von hier wegkommen sollten – die Funkstörung macht mir Sorgen.«
»Das übliche Verfahren, wenn die Iwans nicht bei Laune sind. Wissen Sie, was passieren wird, wenn Sie dort oben sind und ich das Packeis ramme? Das ist Selbstmord.«
Beaumont schaute auf das Deck, wo die Matrosen immer noch Eis über Bord hievten. Die Köpfe wandten sich ab, als er ihren Blicken begegnete. Ein Mann spuckte auf das Deck, nahm aber seine Arbeit schleunigst wieder auf, als Schmidt ihm einen strengen Blick zuwarf. »Selbstmord?« wiederholte Beaumont. »Dann werden alle Mann an Bord endlich zufrieden sein.«
Drei Stunden Schlaf hatten Beaumonts Lebensgeister wiedererweckt, aber er war noch lange nicht so energiegeladen wie sonst, als er, dick eingemummt, die vereiste Leiter hochstieg. Ein Lederriemen war um seine Brust geschlungen, ein zweiter mit Schnappverschluß, den er um den Mast legen würde, baumelte herunter. Den Kopfhörer des Funkgeräts hatte er unter seiner Pelzkapuze schon aufgesetzt. Auf dem Deck unter ihm war ein Stimmungsumschwung eingetreten. Die Matrosen waren vor zehn Minuten noch so feindselig gewesen. Jetzt unterbrachen sie ihre Arbeit und starrten mit Bewunderung auf den großen Engländer, der die mörderische Leiter hochkletterte. Beaumont hatte die Veränderung zwar gespürt, als er das zweitemal aufs Deck gekommen war, ignorierte sie aber trotzdem. Sie können mich alle mal…
Sieben Meter über dem Deck hielt er an und trat seinen Stiefel mit voller Wucht gegen das Eis, um es loszubrechen. Sein Fuß rutschte aus, seine Hand klammerte sich fester um eine Sprosse, aber das Eis war noch ganz. Die Leiter schien aus solidem Eis zu bestehen. Während er weiter aufwärts stieg, fühlte er, wie die arktische Kälte durch seine Handschuhe drang, unter die Fäustlinge und darunter einsickerte und an der rauhen Haut seiner Finger raspelte. Die schneidende Nachtluft ließ sein Gesicht erstarren und biß sich in seinen Augenlidern und an seiner Kehle fest. Seine Augen tränten, so daß er alles nur verschwommen sah. Er stieg höher, und das Empfinden der schonungslosen Kälte fing an, alles andere auszulöschen: das Dröhnen der wartenden Motoren, das Scheinwerferlicht, das Schmidt auf das Eis vor dem Bug gerichtet hatte, und das endlose Eisfeld, das sich gegen Süden erstreckte.
In dreizehn Meter Höhe verfing sich der Schnappverschluß an einer Sprosse, der an einem Riemen um seine Brust baumelte. Einen Fuß hatte er noch auf einer Sprosse, der andere war schon nach der nächsten Sprosse ausgestreckt, als sein Körper sich in der Luft ruckartig spannte. Es traf ihn unerwartet, und er verlor das Gleichgewicht. Der eine Fuß baumelte noch im leeren Raum, während der untere Stiefel, der auf der Sprosse aus Eis balancierte, sein ganzes Gewicht halten und den Ruck auffangen mußte, als er plötzlich steckengeblieben war. Dann rutschte der untere Stiefel von der Sprosse ab, und Beaumont fiel.
Er schwebte dreizehn Meter über dem vereisten Deck, nur durch einen Handgriff mit der Leiter verbunden. Er versuchte, seine Handschuhe an dem glatten Eis festzukrallen und das Gleichgewicht wiederzufinden. Seine Stiefel pendelten in der Luft und suchten nach Sprossen, die er nicht sehen konnte. Er fühlte, wie seine Hände den Halt verloren und langsam von der vereisten Sprosse abrutschten. Dann fand ein Fuß Halt an einer Sprosse. Damit konnte er einen Teil des Gewichts auffangen. In der nächsten Sekunde hatte Beaumont auch den zweiten Fuß wieder auf der Leiter. Während er nach Luft schnappte, riskierte er einen Blick nach unten auf das Deck und sah die winzigen Gesichter, die zu ihm hochschauten. Er wartete, bis sein Puls sich normalisiert hatte und setzte seinen Aufstieg fort.
Das nächste Hindernis war die Saling. Die Stahlleiter endete direkt unterhalb, da sie, so nahm Beaumont an, durch eine Klapptür in den Ausguck geführt hatte, in dem Carlson den Tod gefunden hatte. Jetzt mußte er über sie hinwegklettern und anschließend über die Saling steigen, bevor er sich rittlings auf sie setzen und den Riemen an seiner Brust an den Mast über ihm befestigen konnte. Er war fast dreißig Meter über dem Deck. Bevor er dieses schwierige Manöver in Angriff nahm, streckte er eine Hand hoch, um die Segeltuchpolsterung, die um die Saling gewickelt war, zu untersuchen. Er stellte fest, daß sie verrutschte und daher keinen sicheren Sitz bot.
Es dauerte zehn qualvolle Minuten, bis er sich über die Saling gezogen und auf die Segeltuchmanschette gesetzt hatte, den Mast zwischen den Oberschenkeln. Er mußte den zweiten Riemen in einer Schleife um den Mast legen. Zum Schluß verband er die Anschlußklemmen des Funkgeräts mit dem Kasten, der schon an dem Mast hing. Erst dann spürte er, daß sein Körper unter der Kleidung in Schweiß gebadet war und daß ihm Schweiß das Gesicht herunterlief. Er tastete nach einem Taschentuch in seiner Manteltasche und wischte über sein Gesicht. Eistropfen lösten sich von seiner Stirn. Bevor er Verbindung mit der Brücke aufnahm, schaute er sich um. Die Aussicht war überwältigend.
Er schob eine Seite der Kapuze zurück, um zu horchen. Er hatte es sich also nicht eingebildet: Unheimliche quiekende und quietschende Geräusche hallten über das Eis, denen ein dumpfes Donnern folgte – wie von einem vulkanischen Ausbruch. Er konnte die Quelle dieses Rumorens erkennen – weniger als einen Kilometer von der Elroy entfernt. Eis wände, die aus seiner Höhe und Entfernung nicht größer schienen als kleine Wellen, schichteten sich nach und nach auf und krochen über das Eisplateau, weg von der Elroy in südliche Richtung. Während er schaute, erschien ein Streifen dunklen Wassers, der in entgegengesetzter Richtung zur Elroy breiter wurde. Das Geräusch von knackendem Eis erfüllte die Nacht, Eis, das einander zerbrach. Die Wasserrinne wurde immer weiter und öffnete sich schließlich zu einem dunklen Gürtel, der der Ozean sein mußte. Die Elroy mußte zu dieser Rinne durchbrechen.
Der Riemen am Mast engte Beaumont ein. Trotzdem drehte er sich um und schaute über das Heck hinweg. Eine offene Rinne, weniger als einen Kilometer lang, erkannte er hinter dem Schiff, und weit hinten, am Ende dieser Rinne, lag das Wrack des sowjetischen Hubschraubers, den Beaumont zu dem Schiff geflogen hatte. Er hatte die Maschine absichtlich unter dem Bug der Elroy gelandet, und später hatte Schmidt den Rest erledigt. Eine kurze Strecke hatte er das Schiff rückwärts laufen lassen und dann in das Eis gerammt, gegen die Maschine, die am Rand des Eises stand. Dann hatte der Bug die Überbleibsel des Hubschraubers mitgeschleppt und sie in das Wasser fallen lassen. Aber nicht das Ende der Rinne interessierte Beaumont; mit Entsetzen nahm er etwas wahr, was weit dahinter lag.
Von einer aufkommenden Brise aus dem Norden getragen, kroch eine schwarze Wolke auf das Schiff zu. Es waren Nebelwolken, die sich von dem Nebel, der Target 5 umlagert hatte, deutlich unterschieden. Ein schwarzer Vorhang, Hunderte von Metern hoch, glitzerte unheilvoll im Mondlicht. Eine Eisnebelbank trieb auf das Schiff zu. Es war das am meisten gefürchtete Phänomen in der Arktis. Beaumont starrte auf diese Bank gefrorenen Nebels, eine seltene und äußerst heimtückische Wettererscheinung. Sie kann Erfrierungen verursachen, die eine sofortige Amputation erforderlich machen, wenn der Eisnebel sich um einen Menschen legt. Wenn er Beaumont auf dem Mastkorb erwischte, würde er innerhalb von Sekunden sterben. Schon breitete sich dieser Nebel über die Eisrückenzone aus. Rasch sprach er in das Mikrophon, das von seinem Kinn baumelte.
»Schmidt! Fahren Sie rückwärts!«
Er umklammerte den gepolsterten Mast, während das Dröhnen der Motoren stärker wurde. Das Schiff bewegte sich rückwärts und glitt durch das dunkle Wasser. Die unmittelbare Wirkung auf die Mastspitze war sanfter, als Beaumont befürchtet hatte: nicht mehr als ein leichtes Schwingen. Unten glitt das Eisfeld vorbei, und zu beiden Seiten erschien dunkles Wasser, dunkle Flecken gegen die Blässe des Packeises. Das Schiff verlangsamte sein Tempo und blieb stehen. Beaumont wußte, was auf ihn zukam, und er spürte, wie seine Bauchmuskeln sich spannten. Es bedurfte eines bewußten Appells an seine Willenskraft, um die Maschinerie in Bewegung zu setzen, den Befehl in das Mikrophon zu sprechen.
»Halbe Fahrt! Vorwärts!«
»O. k. Beaumont, es geht los. Halten Sie sich fest!«
Beaumont preßte sich gegen den Mast, den Kopf zur Seite. Damit bereitete er sich auf den Aufprall vor. Die Antriebskraft steigerte sich, zitterte den Mast hinauf, und das Schiff schob sich vorwärts. Das Eisfeld weit unter ihm glitt nun in entgegengesetzter Richtung vorbei. Beaumont beobachtete den immer schmaler werdenden Wasserfleck. Denn wenn der Fleck verschwunden war, würde der Eisbrecher auf Eis stoßen, Schiff gegen Eis, Stahl gegen die Barriere, eine bewegliche Masse gegen eine unnachgiebige Kraft. Der Fleck wurde schmaler, war nur noch ein schwarzer Strich auf dem weißen Eis und verschwand dann ganz. Das Schiff fuhr immer schneller… Grkkk!… Der verstärkte Bug schlug auf. Der Aufprall ließ das ganze Schiff beben, raste den Mast hoch. Der Mast bebte, peitschte hin und her und vibrierte bis in die Spitze. Er traf Beaumont wie einen Hammerschlag. Verzweifelt klammerte er sich an den Mast und preßte seinen Körper gegen das Segeltuch. Die Vibration wurde langsamer und hörte dann ganz auf. Der Eisbrecher stand still, war im Eis festgefahren.
Beaumont lockerte seinen Griff und schaute nach vorn. Vor dem Bug wurde ein dunkler Riß sichtbar, der jedoch kaum länger war als einen Meter. Er schaute auf das Eis zu beiden Seiten der Ritze, auf der Suche nach einer größeren Spalte; aber er fand nichts. Das Eis war noch intakt. Er hatte sich so stark darauf konzentriert, daß es ein paar Sekunden dauerte, bis er merkte, daß Schmidt mit ihm sprach. Er packte den Mast etwas fester, sah, daß die offene Rinne sich in einer Entfernung von etwa einem Kilometer verbreiterte. Erst dann hörte er Schmidts energische Stimme wieder, die ein wenig besorgt klang.
»Beaumont, hören Sie mich? Beaumont…«
»Alles o. k. Wir haben nicht allzuviel erreicht diesmal. Dasselbe noch mal, kann ich nur sagen. Versuchen Sie, das Eis an genau derselben Stelle zu treffen, wenn es geht.«
»Zurück?«
»Ja, Schmidt, den Rückwärtsgang.«
Die mächtigen Motoren heulten auf, die Schraube drosch das dunkle Wasser am Heck. Von seiner enormen Höhe aus konnte Beaumont spüren, wie der Eisbrecher kämpfte, um sich aus dem Eis loszureißen. Die Elroy hatte sich verfangen, als sie ihre ganze Masse gegen das Eis geworfen hatte. Das Eis hatte sich gespalten, hatte den Bug einschneiden lassen und sich dann wie eine Schere um ihn geschlossen. Das Dröhnen steigerte sich ein zweites Mal, entwickelte noch mehr Kraft, und als Beaumont schon sicher war, daß Schmidt es nicht schaffen würde, riß sich das Schiff plötzlich los. Der tosende Lärm des zerschmetternden Eises war stärker als das Dröhnen der Motoren. Die Elroy glitt rückwärts und hinterließ dunkle Flecken auf der Backbordseite, wo sich Farbreste auf dem angeschlagenen Eis abgescheuert hatten. Während das Schiff rückwärts fuhr, schaute Beaumont zurück. Der schwarze Vorhang des Eisnebels rückte nun schon über den Gürtel der ebenen Eisfläche vor und kam dem Schiff immer näher. Er wartete, bis das Schiff wieder zum Stillstand gekommen war.
»Halbe Kraft! Vorwärts!«
Schmidt hatte das Schiff diesmal die Wasserrinne weiter zurückgefahren, damit der Bug durch einen längeren Anlauf mit größerer Wucht auftreffen würde. Beaumont hielt sich fest. Mit halbgeschlossenen Augen starrte er nach unten und beobachtete den schmaler werdenden Wasserstreifen, ohne zu wissen, daß Grayson und Langer an Deck standen, sich an der Reling festklammerten und mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen zu ihm hochschauten. Die Lücke schloß sich, und das Eis schoß ihm entgegen. Der zweite Aufprall war weit stärker. Das Beben schoß den Mast hoch, und Beaumont war ernsthaft in Schwierigkeiten. Er flatterte wie ein Blatt an dem heftig schwankenden Mast. Vor seinen halb zusammengekniffenen Augen zitterte die weite Eislandschaft, als ob sie von einem Erdbeben geschüttelt würde. Dann stand das Schiff wieder.
Dreißig Minuten lang ging es bei halber Fahrt so weiter, dreißig Wunden schlagende, vernichtende Minuten. Beaumont änderte den Angriffswinkel und benutzte die Elroy als seinen persönlichen Sturmbock, mit dem er auf das Eisfeld einhämmerte. Langsam wendete sich das Blatt. Das Eis zerbrach Stück um Stück und zeigte ein dunkles Zickzackmuster. Gleichzeitig geschah etwas anderes – nicht ganz so langsam. Beaumont wurde systematisch in einen Zustand versetzt, in dem er kaum noch sein Tun registrierte. Sein Gesicht schmerzte entsetzlich von der Kälte und zeigte furchtbare Quetschungen von dem häufigen Aufprall gegen das Segeltuch. Jetzt hatte der Eisnebel ihn fast erreicht. Sie mußten schnell durchbrechen, bevor er ihn tötete.
»Rückwärts, Schmidt«, ächzte Beaumont. »Diesmal bis zum Ende der Rinne.«
Sie fuhren zurück, zu weit zurück. Ein Finger des schwarzen Eisnebels kroch über die Stelle hinaus, an der der U-Boot-Jäger untergegangen war. Der Finger krümmte sich um den Mast, und Grayson, der sofort erkannte, was los war, brüllte zu der Brücke hoch auf eine Art und Weise, der Passagiere sich selten bedienen, wenn sie den Kapitän des Schiffes anreden: »Vollidiot – machen Sie, daß wir wegkommen! Beaumont steckt im Frost!«
Beaumont spürte den tödlichen Frost, als Dunkelheit alles auslöschte. Das Eisfeld, das Wasser unter ihnen, sogar das Deck verschwand. Er hatte nach vorn geschaut und das nächste Rammanöver abgeschätzt, als der Eisnebel sich über ihm zusammenzog. Außer Atem vor Erschöpfung, hatte er tief eingeatmet; ein Schaudern durchfuhr ihn. Er hatte das Gefühl, daß seine Lungen gefrieren und sich mit flüssigem Eis füllen würden. Er schnappte nach Luft und fühlte ein ungeheures Gewicht auf sich, das versuchte, ihn von der Saling herunterzuzerren. Das Schiff bewegte sich endlich vorwärts und entzog ihn der eisigen Gefahr. Er öffnete die Augen, die er instinktiv geschlossen hatte, und stellte mit Entsetzen fest, daß sein Parka mit Schichten von Eiskristallen überzogen war. Er war kurz davor gewesen, selbst zu Eis zu werden.
»Alles in Ordnung, Beaumont? Beaumont, Beaumont…«
Schmidt hatte die gewohnte distanzierte Kontrolle über seine Stimme verloren, die jetzt voll Not und Besorgnis war.
»Alles in Ordnung. Diesmal schaffen wir es!« Beaumont holte tief Luft. »Wir müssen die Backbordseite des Eises fünfzig Meter vor dem Riß treffen. Haben Sie verstanden?«
»Fünfzig Meter vor dem Riß?« fragte Schmidt ungläubig.
»Ja. Backbordseite! Fünfzig Meter! Ich werde sie abprallen lassen – in einen Riß auf der Steuerbordseite. Volle Kraft!«
»Volle Kraft? Das bringt Sie um…«
»Bringen Sie dieses verdammte Schiff in Bewegung, Schmidt!« Beaumont brüllte in das Mikrophon. »Wenn ich volle Kraft sage, meine ich volle Kraft!«
»O. k. Das ist Ihre Entscheidung.« Schmidt hielt gerade noch an sich – fast hätte er gesagt: »Das ist Ihre Beerdigung.«
Die Elroy drängte vorwärts und dröhnte stärker als zuvor. Sie schnitt durch das dunkle Wasser und schlug eine Bugwelle gegen das Eis zu beiden Seiten, während die Antriebskraft sich zu maximaler Höhe steigerte, um sich gegen die Barriere zu werfen. Beaumonts Taktik war ungewöhnlich: Er hatte Schmidt Anweisung gegeben, das gewaltige Gewicht des fahrenden Schiffs gegen eine andere Stelle im Eis zu schleudern, damit es bei Abprallen gegen einen Teil des Eises schlagen würde, den es sonst nicht erreichen konnte, einen Bereich, in dem ein breites Zickzackband sich weit in Richtung einer immer breiter werdenden Rinne erstreckte. Es war eine Methode, die er schon einmal ausprobiert hatte und die auch erfolgreich gewesen war, als er vor drei Jahren die Exodus in die Smith-Enge gelotst hatte. Allerdings nicht bei voller Kraft.
Diesmal blieb er mit Schmidt in Funkverbindung, um den Anlauf des Schiffes genau zu lenken, um es genau an eine bestimmte Stelle des Eises auf der Backbordseite zu bringen.
Unter ihm an Deck hatte sich inzwischen einiges geändert. Schmidt hatte angeordnet, daß alle Mann das Deck vor dem neuen Aufprall räumen müßten. Grayson war auf die Brücke gegangen, lehnte sich aus einem Fenster und starrte zu der winzigen Gestalt auf der Saling hoch, die er kaum ausmachen konnte. Volle Kraft… Wenn es möglich gewesen wäre, hätte er Schmidts Befehl widerrufen.
Beaumont auf der Mastspitze starrte nach Backbord. Seine Kleidung, von den Eiskristallen schwer wie ein Stahlpanzer, hing bleiern an seinen Gliedern. Er erteilte eine letzte Anweisung. »Wenn Sie merken, daß sie durchkommt, Schmidt, machen Sie weiter…« Das Schiff schob vorwärts, und das Dröhnen der Motoren hämmerte in Beaumonts Kopf. Er schlang seine Arme fest um den gepolsterten Mast und atmete tief ein. Das Schiff prallte auf.
Der Bug der Elroy rammte das Eis auf der Backbordseite und schlug in einem Winkel auf die Barriere. Das Schiff prallte von der Barriere ab, schwang in einem Winkel herum, schoß weiter vorwärts und rammte mit furchtbarer Wucht das Eis auf der Steuerbordseite. Beaumont hatte den Eisbrecher als riesigen Billardball benutzt und den Bug gegen eine Seite karambolieren lassen, damit er auf der entgegengesetzten Seite in der Nähe der gezackten Rinne aufschlagen konnte. Das Dröhnen der laufenden Motoren übertönte ein neues Geräusch, ein mahlendes Krachen, das durch das ganze Schiff lief und die Crew unter Deck erstarren ließ. Aber die Wirkung in Meereshöhe war nichts im Vergleich zu dem, was auf der Mastspitze passierte.
Der Mast vibrierte wie eine Stimmgabel, peitschte vor und zurück, als ob er sich von dem Schiff losreißen wollte. Beaumont wurde mit dem fast dreißig Meter hohen Mast hin und her geschleudert. Der Mast bog sich wie ein Spazierstock unter enormem Gewicht. Die Belastung war entsetzlich, fast unerträglich, und Beaumont verlor die Orientierung, als das Peitschen sich fortsetzte – hin und her mit einer unglaublichen Geschwindigkeit. Er fühlte, wie seine Kräfte ihn verließen, daß er nahe daran war, das Bewußtsein zu verlieren. Er hatte das Gefühl, daß sämtliche Zähne aus seinem Mund losgerüttelt würden, daß sein Kopf von seinem Rumpf geschüttelt würde, daß sämtliche Glieder von seinem Körper fortstreben würden.
Er öffnete die Augen, die Hände noch um den Mast geklammert, und alles war verschwommen. Er konnte nicht erkennen, ob das Schiff stand oder sich noch bewegte. Er blickte nach unten, sah einen riesigen Riß, fast schon eine offene Rinne, und ließ sich gegen den Mast fallen. Er spürte das kalte Mikrophon an seinem Kinn. Er sprach wie in Trance, ohne es zu merken, redete wie jemand, der Auswendiggelerntes wiederholt. »Weiter, Schmidt, weiter…« In seinem Mund schmeckte er etwas Salziges, Blut, und ein brennender Schmerz durchzog seine Schulterblätter, als ob sein Rücken gebrochen wäre. »Weiter, Schmidt…«
Schmidt machte weiter. In dem Moment, als sie das Eis zu Steuerbord trafen, in der Sekunde, als er das Eindringen spürte, hatte Schmidt das Schiff in voller Fahrt gehalten. Der verschrammte Bug hämmerte auf das Eis ein, hob sich und erzwang sich seinen Weg vorwärts. Große Eisplatten wurden zur Seite geschoben, aufgerichtet, zusammengewalzt. Der Bug biß sich tiefer und tiefer in das Eis hinein, zog unentwegt weiter und zerschmetterte die Barriere, die endlich nachgab. Der Erste Ingenieur im Motorenraum starrte auf seine Meßgeräte, unfähig, seinen Blick von den Zeigern abzuwenden, die weit über dem Gefahrenpunkt vibrierten. Wenn Schmidt nicht aufpaßte, würden die Dampfkessel bersten.
Schmidt beachtete das nicht, sondern blieb bei voller Kraft. Das Schiff reagierte gut, blieb nicht stehen, sondern bestieg mit seinem Bug das Eis, ritt auf ihm und brach es durch sein bloßes Gewicht und seine ungeheure Kraft.
Beaumont auf dem Mast, kaum noch bei Bewußtsein, begriff nur nach und nach, was unten vor sich ging. Er sah, wie das Eis immer weiter zurücklief. Dann wußte er, daß sie durchkommen würden. Er verlor das Bewußtsein, sein Griff lockerte sich, und er rutschte von der Saling herunter. Wie ein Gehängter baumelte er in dem Brustriemen. Sein Körper schaukelte wie ein Pendel hin und her.
Ausgerechnet Borzoli, der stämmige Matrose, der Beaumont noch vor kurzem den Eimer in den Weg geschoben hatte, stieg hoch, um ihn zu holen. Grayson hatte seinen Fuß schon auf der vereisten Leiter gehabt, als Borzoli ihn zur Seite schob: »Sie sind zu klein für diese Arbeit, mein Freund…« Wahrscheinlich war der Matrose der einzige Mann an Bord, der es hatte wagen können; obwohl einige Zentimeter kleiner als Beaumont, war er wie ein Bierfaß gebaut. Er kletterte den schwankenden Mast hoch, während der Eisbrecher weiter durch das Eis drang.
»Mein Gott, er muß tot sein…« Langer, der neben Grayson stand, hielt sich an der Leiter fest, um nicht zusammenzubrechen, während sie entgeistert auf den Körper starrten, der fast dreißig Meter über ihnen in der Nacht baumelte.
Beaumont schwang wie ein Gehenkter am Mast hin und her, schlug jedoch nicht gegen den Mast. »Der Riemen wird sein Gewicht nicht viel länger halten«, murmelte Grayson. Borzoli wurde jetzt kleiner. Er bewegte sich mit unglaublichem Tempo nach oben, und Grayson saß die Angst um beide Männer im Nacken – um Beaumont, von dem er jede Sekunde erwartete, daß er von der Saling reißen würde, und um Borzoli, der nur einen einzigen Fehltritt machen mußte, um zwanzig oder fünfundzwanzig Meter herunterzustürzen. Er war jetzt nahe an der Saling.
Grayson wollte seinen Augen kaum trauen, als er sah, wie die winzige Gestalt stehenblieb. Er schaute beiseite, unfähig, weiter zuzusehen. Das Schiff prallte plötzlich mit furchtbarem Ruck auf, und Grayson verlor seinen Halt. Er wurde über das vereiste Deck gegen eine Schotte geschleudert. Eine Weile blieb er außer Atem liegen und versuchte, sich wieder hochzurappeln, als Langer sich über ihn beugte, um zu sehen, ob er verletzt war. Der furchtbare Aufprall mußte natürlich beide Männer vom Schiff geschleudert haben; sie mußten jetzt irgendwo tot auf dem Packeis liegen.
»Hilf mir auf, Horst…«
Langer half ihm wieder auf die Beine. Er hielt sich an der Reling fest und wagte es nicht, nach oben zu schauen. Beide Männer blickten im selben Augenblick hoch und starrten atemlos auf die Leiter. Sie waren starr vor Schreck. Borzoli war auf dem Weg nach unten. Beaumont hing über seinem Rücken, nur durch den Lederriemen gehalten, den Borzoli vom Mast abgeschnallt hatte. Wie zum Teufel hielt der Matrose das aus, fragte sich Grayson. Er stieg eine Leiter aus purem Eis herab, eine Leiter, die von den unaufhörlichen Kollisionen des Buges gegen das Packeis zitterte, dazu mit dem Gewicht eines Mannes auf dem Buckel, das ihn bei jedem Schritt rückwärts die Leiter herunterreißen konnte.
Borzoli und Beaumont wurden größer, als der Matrose dem Deck näher kam. Jetzt, da er spürte, daß ihn seine Kräfte bald verließen, kam der Seemann so schnell herunter wie nur irgend möglich. Seine großen Stiefel hämmerten gegen die eisverkrusteten Sprossen und brachen das Eis ab, da das verdoppelte Gewicht der beiden übergroßen Männer auf die Sprossen einwirkte. Abgesplittertes Eis spritzte über Grayson und Langer. Sie duckten sich, um ihre Augen zu schützen, und als sie wieder aufschauten, war Beaumonts schwankender Körper gerade über ihnen. Sie packten ihn und nahmen dem erschöpften Borzoli das Gewicht ab. Beide Männer waren wieder an Deck, als die Elroy in die offene Rinne und auf den Ozean dahinter vorwärtsdrängte.
Donnerstag, 24. Februar: sechs Uhr bis Mitternacht
»Vorausgesetzt, es käme zu einer Kollision. Was würde passieren?«
Papanin stand auf der Brücke der Revolution neben Tuchewsky, der den Radarschirm beobachtete. Die Brücke war sehr groß. Vor dem Steuermann wölbte sich ein riesiges Panoramafenster aus kugelsicherem Glas. Das Schiff war mit jedem nur erdenklichen wissenschaftlichen Gerät ausgestattet, das der Navigation dienen konnte. Im Vergleich zu dem russischen Schiff war die 6500-Tonnen-Elroy – zur Zeit ohne Radar ausgerüstet wie im neunzehnten Jahrhundert.
Die Vibration der Hochleistungsdieselmotoren war gering, kaum mehr als ein hartnäckiges Summen. Eine ganze Batterie von Scheinwerfern, die in verschiedenen Winkeln auf das Wasser vor der Brücke gerichtet waren, durchleuchtete den dichten Nebel. Der Steuermann stand einige Meter entfernt und konnte Papanins leise Worte nicht hören, die auch für den wachhabenden Offizier nicht wahrnehmbar waren. »Was würde passieren«, fuhr Papanin fort, der vor einer übergroßen Klarsichtscheibe stand, »wenn wir, aus dem Nebel kommend, die Elroy mittschiffs rammten?«
Die Elroy war auf offener See. Sie bot einen unheimlichen, furchterregenden Anblick – und sie sank langsam. Es war völlig dunkel, obwohl irgendwo über dem Eisnebelvorhang der Mond noch schien. Ihre Lichter – Scheinwerfer, die auf den wogenden Ozean gerichtet waren – gaben hin und wieder einen Blick auf das Entsetzliche frei.
Die Brücke, der Mast, die Reling und das Deck waren dort mit den tödlichen Kristallen überzogen, wo die Luft selbst über dem Schiff gefroren war und alles mit einem üblen schwarzen, teerigen Glanz überzogen und verschmutzt hatte, der im Strahl der Scheinwerfer glitzerte. Die Temperatur lag bei minus vierzig Grad. Die Luft war kälter als die eiskalte See. Wie flüssiges Eis hing eine schwarze unheilverkündende Wolke über dem Schiff. Auf dem Deck, das Schlagseite nach Backbord hatte, lagen fünfhundert Tonnen Eis. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Elroy kentern und untergehen mußte.
An Deck war es entsetzlich – entsetzlich und gefährlich, da Gruppen von Männern – alle, die man entbehren konnte – damit kämpften, das Eis noch rechtzeitig über Bord zu hieven, während der Eisnebel sich um sie legte und neue Eisschichten bildete, die sie überwältigten. Sie konnten nichts sehen – außer, wenn das Licht der Schottlampen, die verschmiert und halb verdeckt waren, schwach durch den verkrusteten, sirupartigen Frost auf dem Glas flimmerte. Sie konnten nicht aufrecht stehen, da das Deck von dem enormen Gewicht des Eises, das sie verzweifelt zu bewegen versuchten, ständig nach Backbord kippte. Sie konnten kaum atmen, denn wenn sie tief einatmeten, sogen sie die Luft ein, die zu flüssigem Eis kristallisiert war, Luft, die im wahrsten Sinne des Wortes schwer wie Blei war.
Die Männer waren erstarrt vor Kälte. Ihre vereiste Kleidung hing schwer auf ihren Körpern. Sie arbeiteten mit Pickeln, Äxten, Hämmern und Schaufeln, um die sie bedrohenden Tonnen von Eis zu zerschmettern, auseinanderzubrechen und über Bord zu hieven. Der Lärm der langsam laufenden Motoren wurde fast von dem Hacken, Zerschmettern und Krachen übertönt. Die unruhige See hob das Schiff auf und nieder und machte die Sisyphusarbeit der Mannschaft noch gefährlicher, da sie sie immer wieder aus dem Gleichgewicht brachte, so daß sie sich an den eisüberzogenen Rettungsleinen festhalten mußten. Das ging nun schon seit vierundzwanzig Stunden so. Hinter dem wogenden Bug zischte und rollte die See im Scheinwerferlicht. Schmidt sah von seinem Posten auf der oberen Brücke im Strahl des Scheinwerfers schwarzes Eis aus der Luft herabsteigen. »Das schafft uns, Da Silva«, seufzte er entmutigt. »Das Eis bildet sich schneller, als wir es loswerden können.«
Durch das Backbordfenster blickte Da Silva hinunter und fand kein Gegenargument für den Kapitän: Das Eis auf dem Deck war fast so hoch wie die Reling. Er preßte sein Gesicht an das kugelsichere Glas, zog es aber schnell zurück, als seine Nase die Temperatur zu spüren bekam. Ein Matrose – er glaubte Borzoli zu erkennen – hatte seine Hand schnell hochgezogen, der Handschuh, den er hätte tragen müssen, war unter einer Eisscheibe festgeklemmt. Obwohl er Fäustlinge unter den Handschuhen trug, würde die Hand innerhalb weniger Sekunden erfrieren. Borzoli steckte sofort die Hand unter die Achsel und rannte auf die nächstliegende Treppe zu. Da Silva betete, daß es keine Amputation bedeuten würde. Dann konnte er nichts mehr sehen, als die Gischt einer Welle durch die Luft geschleudert wurde, mit einem Knacken gegen das Glas schlug und sofort festfror.
»Wie ich höre, geht es Beaumont gut«, sagte Schmidt.
»Er erholt sich«, stimmte Da Silva zu. »Er muß wie dieses Glas sein – kugelsicher und gepanzert.«
Beaumont saß allein in Langers Kabine und hörte dem dumpfen Schlagen der Eisschollen zu, die auf der anderen Seite der Kabinenwand gegen den Rumpf prallten. Die Schräglage der Kabine sagte ihm, daß etwas nicht stimmte: Sie neigte sich ständig nach Backbord. Aber er dachte an Papanin und an Schmidts Worte, die er vor drei Stunden, kurz nachdem er aufgewacht war, gehört hatte.
»Sie sind ungefähr vierzig Seemeilen südlich von uns – sechs sowjetische Trawler«, hatte Schmidt ihm erklärt und dabei auf eine Seekarte gezeigt. »Sie haben sich wie ein Netz vor unserem Kurs ausgebreitet. Quinn hat sie entdeckt. Bevor der Eisnebel uns erreichte, hat er die Maschine so weit südlich geflogen, wie der Treibstoff reichte. Und er hat ungefähr hier ein noch größeres Schiff gesehen.«
»Weniger als dreißig Seemeilen entfernt. Die Revolution?«
»Könnte sein. Der Nebel hat sich dort gerade in dem Moment zusammengezogen, als er sie gesichtet hatte. Er glaubt, eine große Radarkuppel gesehen zu haben – ihre Ausrüstung zur Beobachtung unserer Satelliten. Wir müssen uns vorsehen, daß es nicht zu einer Kollision kommt, wenn wir an ihnen vorbeifahren…«
Beaumont setzte sich in der Koje etwas bequemer zurecht. McNeill, der Schiffsarzt, hatte ihm mit etwas Verwunderung in der Stimme gesagt, daß er heil davongekommen war. »Ihre Kleider und das Segeltuch haben als Puffer gewirkt. Daß Sie nicht gegen den Mast geschlagen sind, als Sie dort oben baumelten, hat Ihnen das Leben gerettet – aber Sie werden hier unten bleiben, bis wir Quebec anlaufen…«
Beaumont war anderer Meinung; er wollte bald aufstehen. Er hatte Quetschungen und Prellungen am ganzen Körper, der sich doppelt so groß anfühlte wie sonst, was bei seiner Größe tatsächlich einen ganz beachtlichen Umfang ausmachen mußte. Aber sobald er sich nur aufrichtete, zuckte er zusammen. Nun ja, vielleicht in ein paar Stunden. Als er auf die gegenüberliegende Wand starrte, ohne sie wahrzunehmen, dachte er an seine kurze Begegnung mit Papanin in der Baracke auf Target 5. Er erinnerte sich an den großen kahlgeschorenen Kopf des Sibiriers, an den sehr breiten Mund und an den fast mongolischen Knochenbau. Ein skrupelloser Mann.
Und nun lagen mindestens sieben sowjetische Schiffe vor der Elroy, die Gorow und die Katharina-Karten beförderte. Er langte hinter sich, fummelte in der Tasche seines Parkas und entnahm ihr das Bohrkernröhrchen. Er wiegte es in seiner Hand – das gesamte sowjetische Unterwassersystem, und Papanin wußte, wo es war. »Wir müssen nur darauf achten, daß es nicht zu einer Kollision kommt…«, hatte Schmidt gesagt und dabei an einen Unfall gedacht. Beaumont dachte dabei an etwas völlig anderes, als er den Bohrkern in die Tasche des Parka zurücksteckte, die Decken bis zum Kinn hochzog, vor sich hinbrütete und die Zukunft zu lesen versuchte. Darüber schlief er plötzlich ein.
Die Elroy hatte ihre Geschwindigkeit gefährlich gesteigert und durchfurchte das Wasser mit halber Fahrt. Ihr Bug stürzte tief in ein Wellental. Die Welle schlug über die Backbordreling und tauchte sie unter. Als der Bug wieder auftauchte, hing der halbe Kamm der Welle festgefroren an der Reling, an der das Eis jetzt fünfzehn Zentimeter dick war.
»Wir werden es riskieren müssen«, hatte Schmidt vor zehn Minuten entschieden. »Wir müssen mit der Geschwindigkeit raufgehen und hoffen, daß wir sie dadurch aus dem Eisnebel herausbringen.«
»Sie wird kentern…« Da Silva hatte den Satz abgebrochen, als Schmidt ihn anblickte, und den Blick sofort verstanden: Sie würden sowieso untergehen, wozu also darüber reden. Und die möglichen günstigen Faktoren verschlechterten sich zusehends.
Inzwischen hatten sie Windstärke 8. Der Sturm heulte durch die eisverkrustete Takelage und schleuderte Gischt an Bord, der noch in der Luft gefror und wie Blei auf die Rücken der gebückten Männer prasselte. Sie verloren den Kampf ums Überleben an jeder Front – und das war ihnen nur allzu klar. Das Eis türmte sich noch immer schneller auf, als sie es loswerden konnten, und war jetzt auf der Backbordseite bis zur Relinghöhe eine kompakte Masse. Der zunehmende Wind verwandelte die vor kurzer Zeit noch ruhige See in einen schäumenden Hexenkessel mit 13 Meter hohen Wellen, großen grünen Brechern, die über sie hinwegrollten und halb so hoch waren wie der Rest des Mastes, der sich nach Backbord neigte.
Die riesigen Brecher überfluteten oft das Deck, wirbelten in Taillenhöhe um die Männer, die sich an die eisigen Rettungsleinen klammerten, und überschwemmten das Eis, das sie mit Mühe über Bord zu werfen versuchten. Die Wellen führten häufig schwimmende Eisspiere mit sich, die mit tödlicher Wucht gegen die Schotte krachte. Ein solcher Spier zerschellte in Stücke, bevor das Wasser zurückfloß. Auf diese Weise hatten sie einen Mann verloren. An die Rettungsleine geklammert, wurde er gegen die Schotten gedrückt. Dabei wurde die ganze Mitte seines Körpers von dem schweren Spier eingequetscht, der wie ein Torpedo auf ihn zuschoß. Es bedrückte die Mannschaft, daß sie die Leiche nicht gerettet hatten, aber Da Silva selbst empfand das als Segen – sie hätten später feierlich eine verstümmelte Leiche beerdigen müssen. Wie Schmidt schon gesagt hatte: Sie mußten einiges riskieren. Deswegen drehten sie auf halbe Fahrt auf.
»Ich finde, wir sollten das Deck räumen lassen«, schlug Da Silva fünfzehn Minuten später vor.
»Warum?«
Schmidt ging zu ihm an das Backbordfenster und sah selbst, warum. Die Backbordreling war wieder unter Wasser, und der Anblick von der Brücke hinunter war ein ungewöhnliches, grauenvolles Spektakel. Nur die obere Hälfte der Männer, die bis zur Taille im Wasser standen, war sichtbar. Die Reling war weg, die Eisberge waren verschwunden. Es sah aus, als ob die Brücke für sich allein auf dem Wasser schwämme. Gefrorene Gischt bombardierte das Fenster. Schmidt mußte zu einer noch nicht vereisten Stelle des Fensters gehen, um nach unten schauen zu können. Dann ging er auf seinen Posten zurück, um den Bug im Auge zu behalten.
»Sie bleiben bei der Arbeit«, befahl er.
»Um Gottes willen, sie können nicht arbeiten! Wie wollen sie auch – bis zur Taille im Wasser?«
»Stecken sie jetzt bis zur Taille im Wasser?«
»Nein, nicht im Augenblick, aber sobald die nächste Welle anrollt.«
»Sie bleiben bei der Arbeit.«
Da Silva wußte, daß Schmidt recht hatte. Jedes Kilogramm Eis, das sie zwischen den Überschwemmungen über Bord hieven, ließ das Schiff ein wenig länger schwimmen, ließ sie ein wenig länger leben und sich vorwärts bewegen in Richtung auf etwas, was Sicherheit bedeuten könnte, zumindest eine Art Sicherheit. Sie mußten dem Eisnebel entkommen oder sterben.
Während sechzehn qualvollen Stunden wechselten sie die Arbeitsgruppen noch mehrmals aus. Die Männer hatten Zeit, nach unten zu gehen, um die Kleider zu trocknen und sich aufzuwärmen, bevor sie erfroren. Nach einer kurzen Pause mühten sie sich wieder nach oben, machten sich von neuem daran, eine jämmerlich kleine Menge Eis loszuwerden, stellten sich der Kälte, dem Wind, der See und der Gefahr durch die Eisspiere, die sie gegen die Schotten schmettern konnten. Nur ein Mann wie Schmidt konnte sie solchen Strapazen aussetzen; und nur für einen Mann wie Schmidt nahmen sie die Strapazen auf sich.
Grayson und Langer beteiligten sich genauso daran, während Gorow, der Mann, der der Grund für diese fatale Situation war, seekrank in seiner Koje lag.
Die Wende kam plötzlich; Da Silva bemerkte zuerst, daß sich etwas geändert hatte. Zum viertenmal unten auf Deck, hob er gerade eine Eisplatte hoch. Er blickte nach oben und starrte die andern Männer an. Sie arbeiten weiter, hackten noch auf das Eis ein; sie hatten keine Veränderung gemerkt. Er warf sein Brecheisen einen Treppengang hinunter, rannte zur Leiter und kletterte auf die Brücke. »Es wird heller!« rief er, als er zu ihnen hineinplatzte. »Wir sind durch!«
»Das stelle ich auch fest.«
Es lag weder Erleichterung noch Befriedigung in Schmidts Stimme, während er durch das hintere Fenster blickte. Eine Feststellung, mehr war es nicht. Das Schiff kippte immer noch nach Backbord, und noch lag ein Berg von Eis auf der Seite, aber die Luft war klar, und so etwas wie Mondlicht überspülte mit seinem blassen Schein das Deck. Der Vorhang aus Eisnebel war deutlich zu sehen und trieb mehrere hundert Meter hinter dem Heck von ihnen fort.
Es war elf Uhr, als Beaumont langsam und unter Schmerzen die Treppe zum Vordeck hinaufging und sich fragte, was zum Teufel los sei. Er hatte gerade einen Matrosen gesehen, der vor ihm die Treppe hinaufgelaufen und auf das Deck gestürmt war. Über sich hörte er aufgeregtes Getrampel. Niemand rannte auf einem vereisten Schiff, es sei denn, er war tatsächlich in Gefahr.
Als er auf der Brücke eintraf, hatte Schmidt trotz der Wetterbedingungen ein Fenster geöffnet und starrte durch ein Nachtfernglas. Beaumont warf einen kurzen Blick auf den Schiffsführer. Und Da Silva bedeutete ihm, daß der Augenblick für Fragen nicht gerade günstig war. Das Verhalten beider drückte mehr als normale Angst aus. Er bekam die Antwort auf seine ungestellte Frage, als er an das offene Fenster trat und die schwache Stimme einer Wache hörte.
»Eisberge backbord! Eisberge steuerbord! Eisberge voraus!«
»Nein!« brauste Tuchewsky auf. »Ich würde bitten, des Kommandos enthoben zu werden, bevor ich nur daran dächte, einen solchen Befehl auszuführen. Und ich werde das sogar sofort einleiten. Ich werde den Befehl geben, die Funkstörung zu unterbrechen – bis ich nach Moskau gefunkt und Antwort erhalten habe…«
»Das können Sie nicht!« Papanins Ton war sehr nüchtern. »Sie wissen genau, daß wir ein Kommando des Sicherheitsdienstes an Bord dieses Schiffes haben – es hat bereits die Kontrolle über die Funkstörabteilung übernommen.«
In dem großen Navigationsraum hinter der Brücke der Revolution war es sehr warm. Der Streit wütete seit zehn Minuten. Papanin versuchte, diesen pedantischen Kapitän zu zermürben. Schon bei der ersten Begegnung hatte er gewußt, daß diese Taktik notwendig werden würde. Tuchewsky protestierte wieder.
»Als ich das Kommando über die Revolution übernahm, war die eigentliche Absicht, Forschungsaufträge auszuführen, Meeresforschung…«
»Heuchler! Sie haben amerikanische Satelliten kontrolliert. Das ist natürlich auch Forschung – militärische Forschung!«
»Wir führen auch Experimente für die Meeresforschung durch«, entgegnete Tuchewsky patzig. »Wassertemperatur, Salzgehalt…«
»Was alles mit den Operationen der U-Boote zu tun hat! Sie widern mich an, Tuchewsky! Sie wissen so gut wie ich, daß alle Daten, die Sie sammeln, an die militärischen Nachrichtendienste weitergereicht werden – die ihrerseits entscheiden, welche Fetzen sie an die Professoren weitergeben…«
»Ich tue es nicht!« rief Tuchewsky. »Ich werde den amerikanischen Eisbrecher nicht versenken. Sie sind wahnsinnig – das würde nicht ohne Folgen bleiben.«
»Auch hier sind Sie im Unrecht«, bemerkte Papanin zynisch. »Die Elroy fährt ohne Radar in südliche Richtung – das wissen wir von dem Hubschrauber, der sie vor zwei Stunden gesichtet hat. Sie kann auch mit niemanden Verbindung aufnehmen – die Sperrstörung hat sie total isoliert.«
»Sie hat einen Hubschrauber«, sagte Tuchewsky boshaft. »Das haben Sie wohl übersehen.«
»Nein, habe ich nicht.« Papanin ging zu dem Navigationstisch, um seine Gereiztheit zu verbergen. Tuchewsky hatte einen empfindlichen Nerv getroffen; seit Stunden überlegte der Sibirier, wie er die Sikorsky der Elroy unschädlich machen konnte. »Gorow und die Katharina-Karten sind an Bord dieses Schiffes«, erklärte er geduldig. »Wenn wir sie nicht zurückholen, müssen wir sie zerstören…«
»Das werden wir nicht tun…«
»Ich kann mich nicht entsinnen, Sie um etwas gebeten zu haben. Aber diese Gewässer sind von Eisbergen übersät – und Unfälle passieren jeden Tag. Und Sie sollten einmal an Ihre Familie denken«, fügte Papanin beiläufig hinzu.
»Meine Familie? Was hat denn dies mit meiner Familie zu tun?«
»Insbesondere mit Ihrer Frau«, antwortete der Sibirier ausdruckslos. »Sie ist Jüdin…«
»Das ist eine Lüge!«
Papanin seufzte. »Sie ist Halbjüdin. Ihre Mutter war Jüdin. Sie scheinen vergessen zu haben, daß eine meiner Aufgaben darin besteht, jüdische Agitation in Leningrad ganz besonders im Auge zu behalten…«
»Damit hat sie nichts zu tun…«
»Tuchewsky! Bitte bleiben Sie ruhig! Haben Sie den Funkspruch mit dem Befehl vergessen, alle meine Anweisungen zu befolgen?« Papanin setzte seine Erklärung geduldig fort. »Wenn man feststellen sollte, daß Ihre Frau etwas mit gewissen antisowjetischen Tätigkeiten zu tun hätte, könnte ich es leicht arrangieren, daß man sie nach Israel schickt. Sie würden sie nie wiedersehen, nicht wahr?«
»Das würden Sie nicht wagen.«
»Wie würde es weitergehen? Einige Jahre lang würde sie noch hoffen, hoffen, daß auch Sie kommen. Frauen liegt das Hoffen sehr. Aber nach einiger Zeit würde sie einsehen, daß alles vorbei ist, daß sie ein eigenes Leben leben muß. Wir könnten sogar eine Scheidung arrangieren, wenn sie es wünschen würde…«
»Sie Schweinehund…«
»Das muß ich sein«, stimmte Papanin ihm ruhig zu. »Das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für meinen Job.«
»Es muß eine andere Möglichkeit geben…«
»Wenn Ihnen eine einfällt, lassen Sie’s mich wissen.«
»Ihre Sikorsky ist auf dem Rückweg«, sagte Schmidt.
Beaumont, der mit Grayson und Langer auf der Brücke der Elroy stand, gab keine Antwort. »Ihr Hubschrauber…« Beaumont hatte Schmidt gedrängt, Qinn wieder in die Luft zu schicken, um festzustellen, was vor ihnen lag – falls Quinn einverstanden war. Quinn hatte tatsächlich darauf gebrannt, seine Maschine zu starten, seitdem sie aus dem Eisnebel herausgekommen waren. Schmidt war im Augenblick verständlicherweise mit Problemen der Navigation beschäftigt.
Sie waren rundherum von Eisbergen umringt, die kaum sichtbar waren in dem schweren Nebel, der über der plötzlich ruhig gewordenen See trieb. Vor zwei Stunden hatte das verschrammte und zerbeulte Schiff in dreizehn Meter hohen Wellen um seine Existenz gekämpft, und jetzt fuhr es langsam vorwärts durch eine See wie kalte Milch. Noch kippte es stark nach Backbord und trug das ungeheure Gewicht der großen Eismengen, die gegen die Backbordreling drückten. Und immer noch herrschte eine mörderische Kälte.
Ein massiver Eisberg, über dreißig Meter hoch und wie eine zerklüftete Klippe aus schwimmendem Eis, driftete in einer Entfernung von weniger als fünfhundert Metern vor der Backbordseite des Buges. Nebelschwaden kreisten um ihn nahe der Wasseroberfläche, ein zweiter weißer Gürtel hatte sich um seine Mitte gelegt, aber seine deutlich erkennbare Spitze stach in die mondhelle Nacht. Ein kleinerer Eisberg mit einem Gipfel, zinnenförmig und turmartig wie eine maurische Burg, trieb in gleicher Entfernung vor Steuerbord. Von der Brücke aus gesehen, erschienen sie wie berghohe Inseln, die auftauchten, verschwanden und dann wieder auftauchten.
Langer ging näher an Beaumont heran und flüsterte: »Du hast mich gebeten, Da Silva zu fragen, ob es Sprengstoff an Bord gibt. Er sagt ja…«
»Später«, murmelte Beaumont. Er machte sich um Quinn Sorgen und fühlte sich für diesen letzten Flug verantwortlich. Er würde erst beruhigt sein, wenn der Hubschrauber sicher auf der Landerampe aufgesetzt hatte. Auf seinen Vorschlag hin hatte man einen der starken Scheinwerfer am Bug angeschaltet und fast senkrecht in die Nacht gerichtet. Es war dieses Leuchtfeuer, das den Nebel durchdrang und das Quinn von Süden her anpeilte. Noch war seine Maschine nur als ein winzig kleiner Punkt in der Ferne zu erkennen, der das Mondlicht reflektierte, Nebelschwaden trieben dazwischen, und der Punkt verschwand. Beaumont trat unruhig von einem Bein auf das andere.
»Ich bin gespannt, ob er die Schiffe gefunden hat«, grübelte Grayson laut vor sich hin.
»Wenn sie immer noch mit Volldampf Richtung Norden fahren, wird er sie gesehen haben«, vermutete Beaumont. »Es sind sieben Schiffe, nach denen er suchen sollte – eins davon wird er gesichtet haben…«
»Mir ist es scheißegal, wo sie sind«, knurrte Schmidt, der nach Steuerbord schaute. »Wir sind auf hoher See – wir werden einfach an ihnen vorbeifahren.«
Hinter dem Rücken des Kapitäns fing Beaumont Da Silvas Blick auf, einen sehr skeptischen Blick. Der Maat teilte Schmidts über alle Zweifel erhabenes Vertrauen auf Freiheit der Meere nicht. Beaumont hatte dies bereits vorher bemerkt und sich dadurch ermutigt gefühlt, Langer zu Da Silva zu schicken. »Versuch mal rauszukriegen, ob sie irgendwelchen Sprengstoff an Bord haben«, hatte Beaumont vorgeschlagen. »Sehr wahrscheinlich haben sie irgend etwas, um sich aus dem Eis herauszusprengen. Du bist Sprengstoffexperte, deswegen wird er die Frage nicht so abwegig finden.«
Das Schiff zitterte langsam vorwärts durch die dunkle See, die im Mondlicht glänzte wie eine riesige Öllache. Der Nebel hing bis jetzt nur vereinzelt in Fetzen in der Eisbergzone zu beiden Seiten des Schiffes. Um diese Jahreszeit war der Seegang in diesen Gewässern oft so ruhig wie jetzt. Möglicherweise war es das enorme Gewicht der schwimmenden Eismassen, das der See diese Ausgeglichenheit verlieh. Sie konnten das leise Pochen von Quinns Hubschrauber hören, der ihnen entgegenflog; aber er war noch unsichtbar für sie.
Beaumont sah nach Steuerbord hinüber, wo ein Scheinwerfer über den nächstliegenden Eisberg tastete. So illuminiert, erschien er riesig und noch mehr wie eine Burg, da das Licht durch fensterartige Löcher hoch oben in den Türmen schien, die sich von einer Seite zur anderen durch das Eis hindurchgebohrt hatten. Er war in seiner Größe und aus so unmittelbarer Nähe fast erschreckend.
»Könnte es nicht zufällig ein Hohleisberg sein, oder?« murmelte Grayson.
»Hoffentlich nicht – sie können in sich zusammenfallen, wenn man ihnen nur ein unhöfliches Wort zuruft.«
Was buchstäblich stimmte, dachte Beaumont, so unglaublich es jemand erscheinen mußte, der mit den Verhältnissen in der Arktis nicht vertraut war. Tatsächlich konnte eine unbedachte menschliche Stimme diesen Koloß, der mehrere Millionen Tonnen wog, zu Fall bringen. Die Eskimos wußten das; sie glitten in ihren Kajaks an einem Hohleisberg vorbei, ohne nur ein Flüstern zu wagen, so zerbrechlich waren diese schwimmenden Riesen kurz vor dem Einsturz. Beaumont beobachtete, wie der Scheinwerfer den schloßähnlichen Eisberg erleuchtete und über seiner Spitze schwebte. Plötzlich zerbarst die Spitze.
In diesem Augenblick war der Gipfel noch da, im nächsten verschwand er in einer Kaskade aus Eis, die nach allen Richtungen stob. Das Echo der Detonation hallte über den Ozean von Eisberg zu Eisberg. Eisfragmente schossen im Lichtstrahl herab und versanken in der von Eisschollen übersäten See. Mindestens sieben Meter von der Spitze des Eisberges waren zerfallen. Schmidt erteilte rasch Befehl, den Kurs um einige Grad nach Backbord zu ändern, fort von dem Monolithen.
»Es war zwar kein Hohleisberg, aber ein explodierender Eisberg«, sagte Grayson. »Ich hoffe, wir begegnen nicht noch mehr von der Sorte.«
Quinns Sikorsky kam in Sicht und war jetzt nahe genug, daß man die vom Mondlicht umspülten Drehflügel erkennen konnte. Er war weniger als fünfhundert Meter entfernt und stieg allmählich auf siebzig Meter herab mit dem Ziel auf die Elroy. Sein Kurs führte ihn über die Spitze des riesigen Eisberges. Schmidt gab Befehl, für die Landung Quinns die Motoren zu drosseln. Die Nebelschwaden um die Mitte des Eisberges waren fortgetrieben, so daß die immense Größe des riesigen Eisblocks deutlich wurde, der steil aus dem Nebel an der Wasseroberfläche in die Höhe ragte.
»Hoffentlich hat er die Revolution gefunden«, sagte Langer.
Der Eisberg explodierte, als Quinn ihn überflog. Er detonierte wie eine gigantische Bombe, die dem Druck im Innern nicht länger widerstehen konnte. Aber diesmal verschwand nicht nur die Spitze, sondern der ganze Eisberg. Er detonierte mit einem donnernden Getöse, das weit über den Ozean rollte und die Männer an Deck unter der Brücke taub machte. Selbst die Brücke vibrierte von der Stoßwelle. Das Zifferblatt des Kompasses an der Wand zersplitterte, und Glassplitter hagelten auf den Schiffsführer herunter. Schmidt packte das Steuerrad, um den Kurs beizubehalten.
Das Tosen prallte von Eisberg zu Eisberg und erreichte das Schiff immer wieder als ohrenbetäubendes Echo. An der Stelle, wo der Eisberg gewesen war, schossen Gischt und Dampf fast zweihundert Meter hoch in die Nacht, wie ein Geysir. Als die Dampfsäule auf die Wasseroberfläche zurückfiel, war nichts zu sehen außer brodelndem Wasser. Der Eisberg war fort und mit ihm – die Sikorsky und Quinn.
Beaumont ging zu Schmidt, der das Steuerrad dem Schiffsführer wieder überlassen hatte und jetzt am Fenster stand. Er starrte auf die schäumende See. »Er war direkt über dem Gipfel, als er explodierte…«
»Weiß ich«, antwortete Schmidt leise. »Mein Gott…Quinn.« Er richtet sich auf und sprach die Worte, ohne den Mann neben ihm anzublicken. »Wenn Sie noch weitere brillante Ideen haben, Beaumont, wissen Sie ja, was Sie damit anstellen können.«
Es waren nicht so sehr die Worte als vielmehr die Ruhe, mit der er sprach, die seine Bitterkeit zum Ausdruck brachte. Beaumont entfernte sich von der Brücke und nickte Grayson und Langer zu, die ihm folgten. Er war über Quinns Tod entsetzt, aber noch entsetzter, falls das möglich war, über den Verlust des Hubschraubers. Das Radar war verloren, die Funkstörung machte es unmöglich, jegliches Signal zu senden oder zu empfangen, und jetzt war ihnen ihre allerletzte Verbindung mit der Außenwelt genommen worden. Papanin, der sie weiter südlich erwartete, machte die Isolation vollkommen. Eine Stunde später lief die Elroy auf einen Eisberg auf.
Freitag, 25. Februar
»Fünfzig Kilogramm Sprengstoff, Zeitzünder und einige hundert Meter Kabel…«
»Wo wird es aufbewahrt, Horst?«
»Du wirst es kaum glauben – in einer kleinen Kabine auf dem Hauptdeck.« Langer grinste Beaumont an. »Völlig gegen die Vorschriften, sagte Da Silva; aber er sagt auch, daß er, wenn er schadhaftes Zeug über Bord werfen muß, es nicht den ganzen langen Weg von der Sprengstoffkammer hinauftragen möchte.«
»Da Silva hat schon recht«, sagte Grayson. »Die Leute in Washington, die sich die Vorschriften ausdenken, brauchen nie mit dem Zeug umzugehen.«
Die drei Männer in Beaumonts Kabine aßen ihr Mittagessen, das aus Fischsuppe und Zimtkuchen bestand. Daß ihnen die Mahlzeit in die Kabine gebracht worden war, ließ erkennen, daß ihre Popularität an Bord schon wieder im Schwinden war. »Wir sind wohl in Ungnade gefallen«, meinte Grayson, während er die Kaffeetasse hinstellte. »Als ob du Quinn extra raufgeschickt hättest, damit er von dem Eisberg in die Luft gejagt würde…«
»Schmidt ist besorgter, als er zugeben möchte«, erwiderte Beaumont. »Er tut so, als würde er sich ganz auf die Navigation konzentrieren, aber meiner Meinung nach macht er sich wegen all der russischen Schiffe genauso viele Sorgen wie wir. Es ist hauptsächlich die Revolution, die mir Kopfzerbrechen macht – mit ihren sechzehntausend Tonnen. Die Trawler könnte die Elroy einfach beiseite schieben. Was ist das, Horst?« Der Deutsche zeigte ihm mit einem verschmitzten Gesichtsausdruck einen Schlüssel in seiner Hand.
»Der Schlüssel zu der Sprengstoffkabine. Da Silva und Schmidt sind nicht so ganz ein Herz und eine Seele, jedenfalls nicht, was diese Einstellung ›wir sind auf hoher See, und deswegen kann uns nichts passieren‹ betrifft. Und irgendwie sind die fünfzig Kilo Sprengstoff in ein paar Rucksäcke geraten – nur für den Fall…«
Die Kabine bebte plötzlich bei einem schweren Zusammenstoß und erzitterte, als ob die Schotten zusammenbrechen würden. Die Kabinenwände kippten nach Backbord, zurück nach Steuerbord, dann standen sie wieder aufrecht. Ein furchtbares Malmen kam vom Schiffsrumpf, als ob der Kiel herausgerissen würde. Das malmende Geräusch schien nicht aufhören zu wollen. »Um Gottes willen…« Grayson riß die Kabinentür auf. Sie hörten Rufe, das Poltern rennender Matrosen und ein furchtbares Krachen hinter der Backbordschotte. Plötzlich stand das Schiff still, während die Motoren im Leerlauf weiterdröhnten. Das Licht flackerte und drohte ganz zu verlöschen, dann nahm es zögernd die ursprüngliche Leistung wieder auf.
»Wir sind aufgelaufen«, rief Horst.
»Oder die Revolution hat uns gerammt…«, meinte Grayson.
»Das hörte sich eher nach Eisberg an!« Beaumont warf sich in seinen Parka. »Los, auf die Brücke!«
Beaumont rannte den verlassenen Niedergang entlang und blieb an der untersten Stufe stehen, um seinen Parka zuzuknöpfen und seine Fäustlinge und Handschuhe überzustreifen. Vom Deck über ihnen hörte er Männerstimmen, die von Panik erfaßt waren. Er eilte die Treppe hinauf und öffnete die Tür. Sofort traf ihn der Nebel, kalter, feuchter Nebel, in dem Schatten durcheinanderrannten. Es war unmöglich zu sehen, was passiert war, was hinter der Backbordreling los war. Beaumont konnte noch nicht einmal die Backbordreling ausmachen, während er sich zur Leiter vortastete, die auf die Brücke hinaufführte. Eine große, stämmige Gestalt kam ihm entgegen und rempelte ihn an. Borzoli.
»Wir sind aufgelaufen!« keuchte er heiser.
»Sinken wir?« fragte Beaumont, während er nach dem Bohrkern in seiner Parkatasche tastete.
»Wer weiß…«
Beaumont stieg die Leiter zur Brücke hoch und hatte die oberste Sprosse fast erreicht, als er durch den wehenden Nebel vor dem Bug etwas wie einen Berg auftauchen und verschwinden sah, nur wenige Meter entfernt. Er ging zögernd auf die Brücke. Grayson und Langer kamen hinter ihm die Leiter hoch. Schmidt stand vorn auf der Brücke an einem offenen Fenster. Die eiskalte Luft verjagte die Wärme in wenigen Minuten. Der Schiffsführer umklammerte das Rad noch, obwohl das Schiff festsaß. Der Boden war nach Steuerbord geneigt, und die Motoren standen still. Schmidt warf einen Blick über die Schulter und bemerkte Beaumont.
»Kommen Sie einen Augenblick hierher, Beaumont«, rief er ihm zu. Sein Ton war wieder neutral, die wütende Stimmung verflogen. »So was Verrücktes – wir sind auf einen Eisberg aufgelaufen.«
Es dauerte eine Stunde, bis sie ihre Lage eingeschätzt hatten – eine höchst außergewöhnliche Lage. Die Elroy war sehr langsam durch den dichten Nebel gefahren und dabei in eine kleine Bucht innerhalb eines riesigen Eisberges geraten. In weniger als einer Minute hatte sie die Bucht durchquert. Der Bug war in einen breiten Gully aus Eis gefahren, der aus der Seite des Eisberges ausgewaschen worden war und eine große, natürliche Rampe bildete, die sich schräg nach oben aus dem Wasser heraushob. Beim ersten malmenden Knirschen hatte Schmidt reagiert, aber bis dahin waren der Bug und das ganze Vorderteil des Schiffes wie von einem Trockendock herausgehoben worden, während am Heck die Schraube noch tief im Wasser steckte.
Schmidt hatte die Maschinen gestoppt. Das 6500-Tonnen-Schiff war festgefahren. Der Bug und ein Drittel des Rumpfes lagen auf dem Eisschacht, während die restlichen zwei Drittel des Schiffes und das Heck noch im Wasser lagen. Am Ende der Rampe ragte die Wand des Eisberges steil in den Nebel hinauf – im Strahl des Scheinwerfers grünlich und massiv wie ein Felsen. Für Schmidt war die Situation unfaßbar, für Beaumont nur ein seltener Zufall: Vor einem Jahr hatte ein britischer Trawler ein ähnliches Erlebnis vor Spitzbergen durchgestanden. Er hatte seinen Bug tief in einen Hangar Rande des Eisfeldes gerammt. Der gesunde Menschenverstand des Kapitäns angesichts dieser einmaligen Situation hatte die Lage gerettet: Er hatte einfach den Rückwärtsgang eingelegt, und die Schraube hatte den Trawler in die See zurückgeschleppt.
»Mein Gott!« entfuhr es Da Silva, der im hinteren Teil der Brücke stand. »Wie zum Teufel sind wir hier reingeraten?«
Sie gingen zu dem hinteren Fenster; Schmidt blinzelte. Der Nebel hatte sich für einen Augenblick gelichtet, und hinter dem Heck konnte er eine kleine Bucht erkennen. Sie wurde von zwei Armen umringt, die nur eine schmale Einfahrt freigaben. Es war fast ein Wunder, daß die Elroy, die blind durch den Nebel gefahren war, beide Arme der Bucht verfehlt hatte und direkt in die Bucht hineingeraten war. Der Nebel wurde dichter und ließ die Arme aus massivem Eis verschwinden.
»Mit ein wenig Augenmaß und einer Menge Glück müßten wir es eigentlich schaffen«, sagte Schmidt nachdenklich. »Der größte Teil des Schiffes liegt noch im Wasser. Wenn ich den Rückwärtsgang einlege, müßte die Schraube uns von dem Eisberg herunterziehen können.« Er atmete hörbar aus. »Ist das nicht das Verrückteste, was Sie je gesehen haben?«
»Wissen Sie, daß wir das Eis losgeworden sind?« fragte Da Silva Beaumont. »Es ist abgefallen, als wir aus dem Hang gefahren sind. Sie können es gerade sehen.«
Beaumont schaute aus dem Backbordfenster nach unten. Der Nebel hatte sich verzogen. Kein Wunder, daß er die Backbordreling nicht gesehen hatte, als er an Deck gekommen war – die Backbordreling war einfach nicht da gewesen. Als der Kiel sich in die Mulde hineingefressen hatte, waren die Eismassen, die sie seit so vielen erschöpfenden Stunden zu bewegen versucht hatten, abgebrochen und hatten die Reling mitgerissen. Auf dem Hang lagen neben dem Schiff enorme Mengen von Eis aufgeschüttet, aus dem hier und da noch ein Stück Reling herausragte. Pelzbekleidete Gestalten, Matrosen, die Schmidt an Strickleitern hinuntergelassen hatte, um den Eisberg zu erkunden, bewegten sich wie Geister im Nebel. Ein Kopf tauchte nahe dem Bug über dem Schiffsrand auf. Dort war die Reling noch intakt. Langer kletterte die Leiter hoch und gesellte sich zu ihnen auf der Brücke.
»Keith, es ist kein Hohleisberg, ich bin sicher…«
»Ganz sicher?«
»Todsicher. Sam und ich sind so hoch geklettert, wie es nur ging, und er ist massiv – ein Eisfelsen…«
»Das kann man jetzt erkennen«, rief Schmidt ihnen zu, der wieder am vorderen Fenster auf der Brücke stand. Der Nebel war in ständiger Bewegung, so daß die Sicht vor dem Bug für einige Minuten frei war und die Herrlichkeit des Eisbergs, auf dem sie festsaßen, sichtbar wurde. Hundert Meter vor dem Bug konnte man das steil aufragende Eis erkennen – den weißen Klippen von Dover ähnlich. Der Nebel lichtete sich weiter, und jetzt konnten sie sehen, wie auf beiden Seiten der Eisfelsen auslief, bis er in dem driftenden Weiß verschwand.
Sie waren auf eine schwimmende Insel aus purem Eis aufgelaufen, ein Ungeheuer von einem Eisberg, der gut einen Kilometer lang war, vielleicht sogar länger.
»Rufen Sie die Männer zurück«, sagte Schmidt knapp zu Da Silva. »Benutzen Sie das Megaphon. Wir verschwinden von hier.«
»Ich nehme an, wir müssen den Eisberg sofort verlassen?« fragte Beaumont gelassen.
»So schnell wir können…« Schmidt brach ab und starrte Beaumont an. »Für einen Augenblick habe ich gedacht, Sie hätten wieder eine Ihrer großartigen Ideen gehabt.«
»Es könnte für uns sicherer sein, wenn wir erst mal blieben, wo wir sind.«
»Festgefahren? Ohne weiterzukommen? Sie möchten doch irgendwann auch zu Hause ankommen, oder nicht?«
»Wir kommen schon weiter«, korrigierte ihn Beaumont. »Ich weiß, es kommt uns nicht so vor, als würden wir uns bewegen, aber wir beide wissen, daß es so ist. Dieser riesige Eisberg wird ständig von der Grönland-Strömung nach Süden getragen – so über den Daumen gepeilt, bewegt sich dieser Eisberg mit einer Geschwindigkeit von zwanzig Meilen pro Tag…«
»Nicht gerade geeignet, nautische Rekorde zu brechen, was?« bemerkte Schmidt trocken.
»Müssen wir das denn?« beharrte Beaumont. »Vor einigen Stunden hat uns Quinn berichtet, daß die sowjetischen Trawler vierzig Seemeilen südlich von uns wären und daß die Revolution nur dreißig Meilen entfernt wäre –, jetzt werden sie noch viel näher sein. Dieser Eisberg fungiert als riesiger Transporter für die Elroy. Wenn wir auf ihm bleiben, wird er uns irgendwann während der Nacht an diesen Schiffen vorbeitragen.«
»Wir wären hier vollkommen festgefahren – unfähig, zu steuern…«
»Was macht das?« unterbrach Beaumont ungeduldig. »Wenn sie uns nicht sehen? Die Revolution ist mit dem modernsten Radargerät ausgestattet, aber was wird ihr Radar aufzeichnen, wenn wir ganz nah bei ihr sind? Nur einen weiteren Eisberg!«
»Der Eisberg als riesiger Transporter!« Da Silva war aufgeregt. »Mir gefällt die Sache…«
»Mir nicht!« Schmidt ging zu einem Sprechrohr, um mit dem Maschinenraum zu sprechen. Nachdem er das Rohr wieder zugestöpselt hatte, blickte er zu Da Silva hinüber. »Chiefy berichtet, daß der Maschinenraum keinen wesentlichen Schaden abgekriegt hat. Das Glas über den Anzeigern ist zersplittert, ein Mann hat Dampfverbrennungen, aber er meint, daß die Motoren in Ordnung sind. Und ich glaube, Mr. Da Silva, ich habe Sie gebeten, die Männer auf dem Eis zurückzurufen. Ich werde die Motoren jetzt starten, um sie zu überprüfen…«
»Das halte ich nicht für ratsam«, sagte Beaumont unverblümt. »Die Hydrophone der Revolution werden die Vibrationen registrieren…«
»Und danach«, fuhr Schmidt fort, Beaumont unterbrechend, »werden wir rückwärts hinausdampfen, genauso, wie wir hereingekommen sind.« Er wandte sich Beaumont zu. »Sie gehen mir mit Ihrer Nörgelei langsam auf die Nerven. Dieses Schiff wird in zwei Stunden in See stechen!«
»Die Elroy ist sehr nah – wir haben das Schlagen ihrer Motoren auf unseren Hydrophonen registriert!«
Kramer war mit dieser Nachricht auf die Brücke der Revolution gerannt und kaum zu Atem gekommen, als er die Worte hervorkeuchte. Der Sibirier, der neben dem schweigenden Tuchewsky stand, nahm seine Pfeife aus dem Mund und ließ sie vor dem Gesicht des Balten tanzen.
»Immer mit der Ruhe, Kramer – und Sie melden sich von nun an alle fünf Minuten bei mir.«
Tuchewsky reckte seine Schultern, als Kramer die Brücke verließ, und wandte sich an Papanin. Er sprach langsam und deutlich, um seine Worte zu unterstreichen: »Nun darf ich wohl die Motoren wieder starten – ich habe Sie wiederholt gewarnt, daß es äußerst gefährlich ist, im Leerlauf in diesen Gewässern zu treiben…«
»Das werden Sie nicht tun! Sie haben das bestentwickelte Radargerät der Welt – benutzen Sie es! Wir müssen weiter driften, damit die Techniker an den Hydrophonen die besten Voraussetzungen haben – ich will, daß die genaue Position des amerikanischen Eisbrechers festgestellt wird.«
Papanin steckte die Pfeife wieder in den Mund und ging zum Brückenfenster, Tuchewsky sich selbst überlassend. Durch das Klarsichtfenster sah er auf eine Welt aus Nebel und Wasser. Irgendwo außer Sicht lagen Eisberge. Die Radartechniker waren in diesem Augenblick dabei, den Kurs der Riesen zu bestimmen, die mit der Grönland-Strömung unaufhörlich weiter südlich trieben. Die Männer starrten auf den grünlichen Schimmer in den Gummimanschetten, auf dem die Abtaststrahlen immer wieder kreisten und unaufhörlich Echos aufzeichneten, die von mehr als einem Dutzend riesiger Eisberge reflektiert wurden.
Alle Männer waren wieder an Bord, die Motoren liefen regelmäßig im Leerlauf, und die Brücke war voll bemannt. Die Beobachtungsposten waren besetzt. Die Elroy war startklar. Schmidt, die Hände im Rücken verschränkt, mußte zum erstenmal in die verkehrte Richtung schauen – durch das Rückfenster zum Heck. Er konzentrierte sich auf zwei bevorstehende gefährliche Manöver: das Schiff von der Rampe herunterzuholen und es rückwärts aus den Armen der Bucht zu steuern. Beaumont stand neben ihm und übersah den eisigen Ausdruck auf dem Gesicht des Kapitäns, der in die Ferne starrte hinter die Bucht.
Der Nebel war genau im falschen Augenblick zurückgekehrt und ballte sich direkt hinter den zwei weißen Halbinseln aus Eis zusammen, die die Bucht fast völlig schlossen. Beaumont stand zwischen Schmidt und Da Silva, er überragte beide. Da Silvas Gesichtsausdruck war fast so trostlos wie derjenige Schmidts. Er lehnte Schmidts Entscheidung völlig ab, konnte aber nichts sagen; noch war er nur stellvertretender Obermaat und durfte sich nicht so viel Kritik erlauben, wie Carlson an seiner Stelle vielleicht vorgebracht hätte. Die Motoren heulten auf und würden das Schiff, Heck voraus, bald in Bewegung setzen, falls die Schraube es so tief ins Wasser zu ziehen vermochte.
Grayson hätte die Szene lieber vom Beobachtungsposten am Heck aus verfolgt. Jetzt platzte er, jede Form vergessend, in die Brücke hinein. Noch respektloser als sein Verhalten war sein Befehl gegenüber einem Mann, dessen Wort auf seinem Schiff Leben oder Tod bedeuten konnte. »Sie müssen noch etwas warten! Draußen ist irgend etwas – gerade im Nebel versteckt!«
»Was?«
Dies eine Wort aus Schmidts Mund explodierte im Raum und verriet etwas von der inneren Spannung, unter der er litt. Er starrte Grayson mit einem Blick an, den die Crew kannte und fürchtete.
»Ich weiß es nicht – irgend etwas…«
»Ich kann es jetzt auch sehen«, sagte Beaumont düster. »Sie setzen dieses Schiff besser nicht in Bewegung, Schmidt.«
»Mein Gott, es ist die Revolution…«, murmelte Da Silva.
Aber die Revolution war es nicht, dafür war es zu groß, selbst für ein 16000-Tonnen-Schiff entschieden zu groß. Es kam durch den Nebel langsam auf den Ausgang der Bucht zu. Es ragte wie ein bewegliches, zehnstöckiges Gebäude steil in die Höhe. Seine unsichtbare Spitze steckte im Nebel und war weit höher als die Mastspitze der Elroy. Die Beobachtungsposten am Heck riefen jetzt, so laut sie konnten, während Schmidt das Fenster öffnete und sich in die Nacht hinauslehnte. Die eiskalte Luft von draußen fühlten sie kaum, während sie nach vorn starrten, von der drohenden Gefahr hypnotisiert. Es sah jetzt aus wie eine hochragende Landzunge aus Eis, die den Nebel zur Seite schob, während sie immer näher kam, direkt auf die Bucht zu. Sogar von dieser Seite der Bucht aus schien er direkt über ihnen zu hängen, ein Mammuteisberg, der auf den Riesen zusteuerte, auf dem sie gestrandet waren.
Schmidt reagierte sehr schnell und gab eine Warnung ab. Er schien sich kaum zu bewegen, sprach dann doch in das Bordfunksystem, das jede Ecke des Schiffes erreichen würde. »Festhalten! Festhalten! Kollisionsgefahr!«
Da Silva packte Beaumont am Arm. »Sehen Sie, dort in der Bucht!«
»Ein Ausläufer des Eisberges!«
Aus dem riesigen Eisberg ragte ein Eisspier hervor, der gut zwanzig Meter im Durchmesser sein konnte. Der Ausläufer glitt durch die Bucht, nachdem er durch den Eingang geschlüpft war. Er brachte Unruhe in das Wasser, das im bleichen, nebligen Mondlicht lag. Dem ›Bein‹ des Eisberges folgte der ›Körper‹. Die Männer auf der Brücke klammerten sich an die Reling und bereiteten sich auf die bevorstehende Kollision vor. Unter ihnen auf dem Deck hielten sich die Wachposten an der Reling fest, die noch intakt war. Beaumont sah zu, wie irgendein Brocken aus dem Nebel fiel ein Brocken, größer als ein Wohnhaus. Er stürzte von dem Gipfel des Eisberges, noch bevor dieser auf den gegenüberliegenden Eisberg stieß.
Der riesige Eisblock schlug direkt hinter der Bucht, ins Wasser und schleuderte eine riesige Wasserfontäne hoch.
»Mein Gott!« stieß Langer hervor. »Ein Hohleisberg…«
Das bedeutete, daß das gesamte Gebäude aus Millionen Tonnen Eis im Augenblick der Kollision zusammenfallen und eine Lawine über die Bucht und das Schiff einbrechen könnte, die sie verschütten würde. Sie standen da wie Wachsfiguren, während sie den Zusammenstoß erwarteten. Im letzten Augenblick gab Schmidt den Befehl, die Motoren abzuschalten. Der Koloß trieb aus dem Nebel hervor und zeigte sich ihnen in seiner ganzen Größe. Der Ausläufer erreichte den Strand der Bucht, und die Eisberge trafen aufeinander.
Ein unglaubliches Krachen und Donnern brach über sie herein, als ob sich der Weltuntergang ankündigte. Der tosende Zusammenprall ließ den getroffenen Eisberg und die Elroy erbeben, daß der Rumpf vibrierte, die Beplankung klapperte und Nieten auf das Eis geschleudert wurden. Da Silva wurde von der Wucht des Aufpralls auf die andere Seite der Brücke geschleudert. Ein Mann im Maschinenraum wurde von einer Laufplanke sieben Meter tief in den Tod geschleudert. Geschirr und Armbanduhren zerklirrten, das noch intakte Glas auf den Meßgeräten im Maschinenraum zersplitterte, die Kompaßnadeln kreisten wie wild. Plötzlich war es still, unheimlich still.
Niemand wagte ein Wort zu sagen, und einige Minuten lang rührte sich niemand. Sie alle starrten auf den Ausgang der Bucht, der nicht mehr existierte. Der Eisfelsen blockierte die Lücke. Es steckte in der Öffnung wie ein Korken in einer Flasche. Aus der Bucht war eine Lagune geworden, ein See ohne Zulauf. Sie waren in ihrem großen Transporter gefangen, in einem Eisberg, der in der Grönland-Strömung driftete, mit einer Geschwindigkeit von 20 Meilen am Tag. Der Hohleisberg war trotz des Zusammenstoßes noch nicht zusammengefallen. Beaumont brach als erster das Schweigen; alle Männer auf der Brücke starrten ihn an, als hätten sie nicht erwartet, jemals wieder eine menschliche Stimme zu hören.
»Jetzt werden wir uns mit dem Eisberg treiben lassen müssen, Schmidt. Keine Wahl!«
»Keine Wahl«, stimmte Schmidt ihm grimmig zu. »Und wir warten nur, bis das Ding über uns zusammenbricht.«
»Ihre Motoren haben ausgesetzt!«
Kramers Stimme klang alarmiert und verwirrt, und Papanin verließ die Brücke mit dem Balten, um nach unten zu gehen und selbst in der Hydrophon-Abteilung nachzusehen. Der Matrose, der in Unterhemd und Shorts an dem Gerät horchte, schaute auf, als Papanin hereinkam. »Kramer erzählt mir, daß Sie sie nicht mehr hören können. Stimmt etwas mit Ihrem Gerät nicht?«
»Nein. Ihre Motoren laufen nicht mehr. Wir empfangen keine Echoanzeigen.«
»Aus welcher Entfernung?«
»Eine Meile, vielleicht noch näher…«
»Vor zehn Minuten waren sie genauso weit entfernt!« Papanin warf Kramer einen wütenden Blick zu. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu! Vor zehn Minuten waren sie schon eine Meile entfernt. Ihre Motoren liefen noch vor ein paar Sekunden. Und sie sollen immer noch eine Meile entfernt sein? Das ist nicht möglich! Wir driften – sie fahren in südlicher Richtung. Sie müssen uns näher gekommen sein!«
»Aber es stimmt«, sagte der Matrose.
»Das kann nicht stimmen – technisch unmöglich!« tobte der Sibirier.
»Mir ist das auch ein Rätsel«, begann der Matrose.
»Das nutzt mir viel!« Papanin verschränkte die Arme und beobachtete den Seemann. »Wenn Sie sich mit der Strömung treiben lassen, könnte es stimmen – wir würden in derselben Entfernung voneinander bleiben. Aber sie lassen sich nicht treiben! Sie haben das Geräusch ihrer verdammten Motoren aufgezeichnet!«
»Klar und deutlich – bis vor einer Minute.«
»Wie erklären Sie sich das?« Papanin zeigte auf die Hydrophon-Ausrüstung. »Es ist Ihre Aufgabe, das zu erklären.«
»Kann ich nicht…«
Der Sibirier sagte nichts. Er stand da mit verschränkten Armen und versuchte, das Gefühl der Ohnmacht zu überwinden. Als er wieder anfing zu reden, war sein Ton so gelassen, daß es dem Matrosen Angst einjagte. »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen – bleiben Sie an Ihrem Kopfhörer.« Er wandte sich an Kramer.
»Da sie so nah sind, schicken Sie den Hubschrauber hoch. Der Pilot kehrt nicht eher zurück, bis er die Elroy gefunden hat.«
Die Elroy, die auf ihrem Riesentransporter festsaß, von zwei zusammengekoppelten Eisbergen eingezwängt, driftete weiter mit der Strömung nach Süden. Sie driftete viele Stunden lang, zeitlose Stunden, denn die Männer, die innerhalb des Eises gefangen waren, hatten keine Möglichkeit mehr, die Uhrzeit exakt festzustellen.
Zuerst schien es unglaublich, so unmöglich, daß Schmidt angeordnet hatte, jeden Zeitmesser an Bord des Schiffes zu kontrollieren. Aber als die Kontrolle durchgeführt worden war, mußten sie feststellen, daß das Unglaubliche wahr war: Jede Uhr und Armbanduhr war stehengeblieben, wahrscheinlich durch irgendeine seltsame Vibration, die im Augenblick des Zusammenstoßes der beiden Eisberge durch das Schiff gelaufen war. Man suchte verzweifelt nach einer richtiggehenden Uhr. Aber es gab keine.
Sie waren daher gezwungen, die Uhrzeit zu schätzen. Von diesem Zeitpunkt an enthielt das Logbuch des Schiffes ungewöhnliche, ungenaue Eintragungen. »Ungefähr achtzehn Uhr…«
»Zirka zweiundzwanzig Uhr…« Daß sie die Uhrzeit nicht wußten, ging den Männern allmählich auf die Nerven; die Nähe des Hohleisberges ging ihnen auf die Nerven, und das Wissen darum, daß jede Sekunde Millionen Tonnen von Eis auf sie herabstürzen und das Schiff und sie alle plattdrücken könnten.
Nichts konnten sie tun, nichts gab es, was sie zu tun wagten. Jede sonst übliche Arbeit blieb liegen: Sie konnten sich noch nicht einmal damit beschäftigen, das restliche Eis an Deck über Bord zu werfen, da sie Angst hatten, ein unvorhersehbares Echo vom Hämmern eines Werkzeuges könnte gerade ausreichen, den Koloß zu Fall zu bringen. Die Stimmung verschlimmerte sich spürbar, als Beaumont und Langer von einer Erkundigungstour des bedrohlich nahen Eisbergs zurückkehrten.
»Er hat zwar das Aussehen eines Hohleisberges«, hatte Beaumont gesagt, als er Schmidt die Tour vorgeschlagen hatte. »Und das riesige Stück Eis, das von dem Gipfel herabgefallen ist, war auch ein Hinweis dafür, aber ich halte es doch für besser, wenn wir nachsehen, bevor wir alle verrückt werden…«
Es war tatsächlich ein Hohleisberg, der größte, den Beaumont je gesehen hatte. Die andere Seite des siebzig Meter hohen Felsens, die der See abgekehrt war, sah aus wie ein Schloß aus ›Tausendundeiner Nacht‹. Um dorthin zu gelangen, hatten sie den großen Ausläufer überquert, der aus der Bucht herausragte, und waren einen schmalen vorstehenden Rand am Fuße des Felsens entlanggegangen. Als sie um die Ecke bogen, erstarrten sie vor Entsetzen. Riesige Nischen und Höhlen waren aus dem von außen so massiv aussehenden Eisberg ausgehöhlt worden. Zwanzig bis dreißig Meter über ihnen ruhten große Eisdächer gefährlich auf gefrorenen Säulen. Weiter unten, wo sie stehengeblieben waren, aber noch weit über dem Meeresspiegel, war ein riesiges Loch, mindestens dreihundert Meter im Durchmesser, das von einem Meteoriteneinschlag hätte stammen können. Das Loch war ein schwarzer See, und während sie horchten, konnten sie das leise Plätschern von Wasser hören, das Schwappen der Grönland-Strömung gegen das Eis. Der wenigstens einen Kilometer lange Eisberg war hohl, ein gefährliches Trugbild – ein riesiger Fels, wie von Termiten zerfressen. Er war ungefähr so sicher wie ein Berg aus Dynamit.
»Ich begreife nicht, wieso er nicht zusammengefallen ist, als er uns traf«, flüsterte Langer.
»Sie vertragen eine Menge, bis sie ganz plötzlich runterkommen«, antwortete Beaumont. »Wir haben genug gesehen. Kehren wir zurück.«
»Um Gottes willen, Keith, guck mal da oben…«
Der Nebel hatte sich über einer großen Eissäule gelichtet und einen gut siebzig Meter hohen Turm freigelegt. Seine Spitze war noch vernebelt. Der Turm selbst war massiv und mindestens dreißig Meter breit. Große Fenster waren hineingebohrt, so viele Löcher im Eis, daß Beaumont sich fragte, wie der Turm überhaupt noch senkrecht stehen konnte. Als der Nebel sich weiter oben lichtete, verdüsterte sich Beaumonts Gesichtsausdruck. Der Turm stützte einen großen Überhang vom hinteren Teil des Felsens, stützte wahrscheinlich den ganzen verdammten Felsen.
»Der hält nicht mehr lange«, sagte er. »Wir gehen besser zurück.«
Nur einige Männer an Bord des Schiffes waren in das Ergebnis ihrer Expedition eingeweiht worden; aber innerhalb einer Stunde hatte sich ihr niederschmetternder Bericht hinter vorgehaltener Hand ausgebreitet und die ganze Elroy erreicht. Ab sofort wurde die Spannung unerträglich. Wenn ein Mann mit dem Ellbogen gegen die Schotte stieß, blickte sein Kamerad ihn böse an; keiner hatte Appetit, sie konnten nicht schlafen, sie konnten nichts anderes tun als sich still und ruhig verhalten. Die Untätigkeit quälte sie. Für die Matrosen, die an die Bewegung eines Schiffes gewöhnt waren, war die Bewegungslosigkeit ein zusätzlicher Spannungsherd. Die Eisberge bewegten sich ständig, drehten sich langsam in der Strömung, aber man spürte sie nicht. Irgendwann in kurzer Zeit – Zeit, die sie nicht messen konnten – würden sie alle ein Haufen kreischender Neurotiker werden.
»Warum interessieren wir uns so sehr für Sprengstoff?« fragte Grayson, als sie in Beaumonts Kabine saßen.
»Wenn wir jemals von hier wegkommen, werden wir vielleicht irgendeine Art Waffe brauchen, um uns zu verteidigen. Ich weiß nicht, wie oder wo oder wann – aber ich teile Schmidts Optimismus nicht. Ich denke dabei an so eine Art schwimmende Mine – ich habe deswegen schon mit Da Silva gesprochen.«
»Er macht sich keine Sorgen – wegen Schmidt?« wollte Langer wissen.
»Da Silva ist in Meutererstimmung«, erzählte Beaumont. »Unter normalen Bedingungen wäre er das nicht – das liegt an der Stille und der Ruhe, die ihn schafft, die uns alle schafft«, fügte er mit einem traurigen Grinsen hinzu. »Die Elroy knarrt nicht einmal mehr.«
»Meinst du, daß wir irgendwann hier herauskommen?« fragte Grayson.
»Wenn überhaupt, dann nur, wenn der Hohleisberg auf der Südseite treibt und von der Strömung gezogen wird. Es gibt eine kleine Chance, daß er sich losreißen und wegtreiben könnte.«
»Und du glaubst immer noch, daß du einen Hubschrauber gehört hast, als du auf dem Eisberg warst?« fragte Grayson. »Schmidt sah nicht aus, als ob er dir glaubte.«
»Nur, weil Horst ihn nicht gehört hat. Ich habe ihn nicht nur gehört – ich glaube, ich habe ihn ganz kurz gesehen, als der Nebel sich einige Sekunden lang verzog.«
»Und das bedeutet, daß Papanin weiß, wo wir sind?«
»Ich fürchte – ja. Mit der Zeit – wann auch immer – werden wir es wissen, vielleicht, wenn der Hohleisberg sich löst.«
Der Hohleisberg brach irgendwann am Freitag, den 25. Februar, los. »Ungefähr zweiundzwanzig Uhr…«, berichtete das Logbuch. Sein Abzug war nicht spektakulär; es gab kein Entzweireißen von Eis und keine Überflutung. Es gab einfach ein lautes, erschreckendes Krachen, bei dem allen an Bord der Puls stockte. Von seinem Posten hinten auf der Brücke sah Da Silva, was geschehen war. Die große Spier, die sich in die Bucht hineingezwängt hatte, war auseinandergebrochen; der Hohleisberg, noch intakt, löste sich vor dem Eingang der Bucht. Da Silva schaute ihm nach. Und wie ein halbuntergetauchtes Ungeheuer folgte der riesige, abgebrochene Spier im Sog dem Haupteisberg.
Als Schmidt, zusammen mit Beaumont, die Brücke erreichte, hatte sich der Anblick, an den sie sich gewöhnt hatten – die umschlossene Lagune mit dem hochaufragenden Felsen auf der anderen Seite – verändert. Der Ausgang stand wieder offen. Dahinter war der Koloß in dem sich zusammenballenden Nebel kaum noch sichtbar. Er verschwand ganz, während sie zuschauten. Schmidt erlaubte sich ausnahmsweise einen Ausdruck des Gefühls: Er atmete geräuschvoll aus.
»Das wär’s. Wir starten, sobald ich die Schraube in Bewegung kriege – egal, was da draußen auf uns wartet.«
Die Situation in der Eisberg-Gasse – soweit sie bekannt war – hatte Leonid Breschnew in Moskau seit Tagen verfolgt, immer besorgt, daß etwas geschehen könnte, was den Besuch des amerikanischen Präsidenten im Mai in der russischen Hauptstadt verhindern würde. Plötzlich war jede Verbindung mit Oberst Papanin abgebrochen: Die Funkstörung, die die Elroy so wirkungsvoll isolierte, schnitt auch die Revolution von der Außenwelt ab.
Am Freitag, den 25. Februar 1972 – während der amerikanische Eisbrecher noch an Bord seines Riesentransporters driftete –, beriet sich Breschnew zweifellos mit Marschall Andrej Gretschko, und der sowjetische Verteidigungsminister entschloß sich zu einem Ablenkungsmanöver. Er wollte irgend etwas finden, um gewisse Journalisten, die Gerüchten über Ereignisse in der Arktis nachgingen, auf andere Gedanken zu bringen. Ganz gleich, was kam – die Krise durfte in der Weltpresse nicht erwähnt werden, und deswegen passierte etwas anderes – etwas, das nah genug bei der Eisberg-Gasse geschah, um die Gerüchte plausibel zu machen, aber weit genug entfernt, um die Aufmerksamkeit von den Ereignissen abzulenken, die sich Hunderte von Kilometern weiter nördlich abspielten.
Die Times vom Mittwoch, dem 1. März, veröffentlichte den ersten Bericht, der überschrieben war:
Washington, 29. Februar
Ein havariertes sowjetisches Unterseeboot, das vier Tage lang in einem schweren nordatlantischen Sturm bei Windstärke 8 trieb, wurde heute von einem russischen Schlepper ins Schlepptau genommen, wie ein Sprecher der amerikanischen Marine bekanntgab.
Starker Seegang… der sich inzwischen wieder gelegt hat, erschwerte es dem Schlepper, eine Schleppleine auf das Schiff zu werfen, das neunhundert Kilometer nordöstlich von Neufundland liegt.
Das U-Boot, das zu der ›Hotel‹-Klasse gehört, hat eine neunzigköpfige Crew an Bord. Es wurde zuerst von einem Aufklärungsflugzeug des amerikanischen Stützpunktes Keflavik auf Island gesichtet…
Weitere sowjetische Schiffe, der Tanker Liepaya und der Fischverarbeitungstrawler Ivan Chigrin, sind ebenfalls unmittelbar in das Gebiet vorgestoßen.
Die Ursache für die Manövrierunfähigkeit des sowjetischen Schiffes ist bisher unbekannt.
Obwohl die Zeitungen der Welt voll von Berichten über die Rückkehr des amerikanischen Präsidenten von seinem kürzlichen Besuch in Peking waren, erschien der Bericht über das sowjetische Unterseeboot, das knapp der Katastrophe entronnen war, in vielen Zeitungen, zusammen mit Luftaufnahmen, die angeblich das in Not befindliche Schiff zeigten, das in fünfzehn Meter hohen Wellen trieb und von stürmischem Wind hin und her gepeitscht wurde. Das Ablenkungsmanöver funktionierte – nicht eine Zeile wurde über die vermißte Elroy geschrieben, die längst auf ihrem Weg durch den St.-Lawrence-Strom zu ihrem Heimathafen Milwaukee hätte sein sollen.
Das amerikanische Flugzeug aus Keflavik mußte das sowjetische U-Boot ungefähr zu der Zeit gesichtet haben, als die Elroy den Eisberg verließ und in die vernebelte Fahrrinne steuerte.
Freitag, 25. Februar: die letzten Stunden
Die riesige Schraube am Heck der Elroy rotierte. Sie peitschte das Wasser, schleuderte kleine Eisschollen zur Seite und wühlte weißen Schaum auf. Schmidt gab das Kommando, und der Eisbrecher bewegte sich langsam rückwärts. Dann blieb er stecken; Schmidt steigerte die Motorleistung. Die Schraube drosch, und die Motoren dröhnten, als ob sie durch das Deck hindurchbrechen würden. Die Elroy war wieder in Bewegung. Sie glitt sehr langsam die Rampe hinunter, wie ein Schiff, das in falscher Richtung vom Stapel läuft. Mit ungeheurem Krachen und Splittern bohrte sich der Kiel immer tiefer in das stahlharte Eis.
Die Schraube drehte sich weiter, und ihre Zugkraft war nun stärker, nachdem ein größerer Teil des Schiffes wieder im Wasser lag. Die Elroy glitt in die See zurück. Als der Bug ins Wasser schlug, spritzten die Wogen haushoch auf, aber die Crew, die sich hinter Beaumont auf dem Achterdeck versammelt hatte, gab keinen Laut von sich, während das Schiff sich langsam quer über die Bucht und durch den schmalen Ausgang schob. Beaumont ging über das vibrierende Deck zum Bug.
Sie hatten den Zeitpunkt ihres Abzuges sorgsam gewählt. Der Nebel über ihnen hatte sich für einige Augenblicke gelichtet, und in den treibenden Schollen vor der Steuerbordreling spiegelte sich der Mond. Als Schmidt das Schiff langsam wenden ließ, sahen sie dichten Nebel, nur etwa einen Kilometer entfernt, vor sich. »Mir gefällt das nicht«, sagte Grayson, der nahe dem Bug neben Beaumont stand. »Ich finde, wir hätten auf dem Eisberg bleiben sollen. Da Silva auch. Und warum zum Teufel müssen wir mit Festbeleuchtung fahren wie ein Vergnügungsdampfer?«
Der Vergleich war treffend. Auf Schmidts ausdrücklichen Befehl hin brannten die Lichter der Elroy. Jedes nur erdenkliche Licht, das noch funktionierte, wurde angeschaltet, und Scheinwerfer strahlten nach Backbord, Steuerbord und voraus über den Bug. »Wir werden auf hoher See sein«, hatte Schmidt zum hundertstenmal wiederholt. »Wenn ich in voller Beleuchtung und mit tutendem Nebelhorn die Eisberg-Gasse herunterfahre, gibt es keinen ersichtlichen Grund für einen Zusammenstoß.«
»Glauben Sie, daß die einen Grund brauchen – wo wir Gorow und die Katharina-Dokumente an Bord haben?« war Beaumont aufgebraust. »Wo wir keinerlei Verbindung aufnehmen können, was möglicherweise hier passiert?«
Er hatte den Streit verloren – und er hatte es im voraus gewußt. Bis zu einem gewissen Punkt waren Schmidts Argumente vernünftig: Wenn sie ohne Licht und Nebelhorn versuchten, weiter nach Süden an ihnen vorbeizugleiten, würde Papanin später behaupten, daß die Schuld für den Zusammenstoß bei den Amerikanern zu suchen sei, wie hätte man sie im Nebel hören oder sehen sollen. Während sie immer weiter südlich fuhren, suchte Beaumont mit seinem Nachtfernglas das Wasser ab.
»Siehst du irgend etwas?« fragte Langer besorgt.
»Nur Ozean. Und Nebel.«
»Sehen Sie irgend etwas?«
Diesmal war es Da Silva, der die Frage stellte. Er war leise von der Brücke heruntergekommen und hatte sich links neben Beaumont gestellt.
»Mit Ihren Augen«, fügte er hinzu, »sollten Sie da oben sein, wo sie schon einmal waren.«
Beaumont blickte zu dem fast dreißig Meter hohen Mast hinauf, wo ein Matrose mit Kopfhörer unter der Pelzkappe an der Saling hing. Dieser Mann hatte die Aufgabe, Schmidt jedes Hindernis vor dem Kurs der Elroy zu melden. »Vielen Dank«, sagte Beaumont. »Nicht wieder. Und noch kann ich da draußen nichts erkennen – noch nicht.«
»Das Carley-Floß ist achtern steuerbord«, murmelte Da Silva. »Nicht weit von der Kabine mit dem Sprengstoff, und Langer hat den Schlüssel. Falls wir ihn brauchen, wird uns Borzoli mit der Barkasse helfen – er schiebt Wache in der Nähe des Floßes. Hätten Sie was dagegen, mir Ihre Pläne zu verraten für den Fall, daß etwas passiert?«
»Ich werde versuchen müssen, Sie zu verscheuchen«, antwortete Beaumont unbestimmt.
»O.k. Sie lassen sich nicht gern in die Karten gucken.« Da Silva hielt inne und schaute auf die Brücke zurück. »Vielleicht ist es besser so – wenn man bedenkt, daß Schmidt noch keine Ahnung hat. Ich könnte dafür als kleiner Angestellter in einem Reedereikontor enden.«
»Besser als eine Leiche auf dem Boden der. Eisberg-Gasse.«
»Sie fährt raus«, sagte Papanin. »Der andere Eisberg, den wir auf der Luftaufnahme gesehen haben, muß sich losgelöst haben.«
Der Sibirier stand auf der Brücke der Revolution und beugte sich über die Manschette des Radarschirms, wobei er seinen Kopf fast ganz hineinsteckte. Der grünliche Schimmer des Schirms fiel auf das glatte Gesicht, den kahlrasierten Kopf und seine Hände und verwandelte ihn in ein grünes Gespenst.
»Wie lange noch?« fragte Kramer nervös.
Papanin blickte kurz vor dem Radarschirm auf und schaute zu Tuchewsky, der auf der anderen Seite der Brücke stand und – die Hände hinter sich verschränkend – Papanin den Rücken zuwandte. »Sie können jetzt Ihre Maschinen starten«, rief Papanin ihm zu. »Ab sofort können wir sie mit dem Radar verfolgen.« Er konzentrierte sich wieder auf die Manschette, während er Kramers Frage beantwortete. »Bis Mitternacht schätze ich – bis Mitternacht wird alles vorbei sein.«
Die Elroy dampfte auf südlichem Kurs die Eisberg-Gasse hinunter. Ihre Motoren liefen mit halber Kraft. Ihr Bug glitt durch das milchige Wasser; sie war hell erleuchtet. Es gab jetzt eine zusätzliche Möglichkeit, ihre Position genau festzustellen: Ihr kräftiges Nebelhorn dröhnte pausenlos, ein tiefes, trauriges Tuten, das über den Ozean widerhallte, und der Widerhall war von Bedeutung. Denn irgendwo in dem Nebel mußte es Wände geben, Wände aus Eis, von denen das Echo abprallte.
Vier Männer, durchgefroren und vor Kälte erstarrt, standen am Bug und versuchten, ständig in Bewegung zu bleiben. Nur Beaumont rührte sich kaum, sondern starrte unentwegt durch sein Fernglas und suchte die See ab. Hinter ihnen knirschten Schritte.
»Kaffee für euch…«
Da Silva und Borzoli gossen ihnen aus einer Thermosflasche dampfenden Kaffee in Pappbecher, aber als sie ihn hinunterschluckten, war der Kaffee lauwarm. Der Obermaat schickte Borzoli zurück auf seinen Posten in der Nähe des Floßes und bat den Beobachter, achtern backbord etwas zu überprüfen, bevor er sprach. »Schmidt hat das Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.«
»Freut mich, daß wenigstens einer glücklich ist«, meinte Beaumont.
»Bis jetzt läuft alles ganz glatt.«
Beaumont sagte nichts, trank seinen Kaffee aus und hob wieder das Fernglas an die Augen. Seine Arme waren vom Hochhalten des Glases ermüdet, seine Augen schmerzten von der Kälte und von dem fortwährenden Schauen durch die Linsen. Eine eineinhalb Kilometer lange, schmale Fahrrinne lag vor ihnen, eine ruhige, mondbeschienene See. Dahinter verlor sich alles im Nebel. Auf der Backbordseite tauchte ein riesiger Eisberg auf, ein häßliches Monstrum mit einem Plateau. Vor Steuerbord lag eine große Nebelbank, ein dichter Schleier, der fast siebzig Meter hoch über dem Ozean hing und, soweit sie sehen konnten, sich die ganze Länge der Fahrrinne entlangstreckte.
»Nichts zu sehen auf dieser Seite«, meldete Da Silva, als Beaumont sein Glas auf die Nebelbank richtete. »Nur ein Haufen Nebel.«
»Ist die Funkstörung noch so stark wie bisher?« erkundigte sich Beaumont.
»Noch stärker. So schlimm wie noch nie.«
»Das bedeutet, daß wir sehr nah an der Störungsquelle sind.«
Die Elroy kam dem Engpaß, der von dem großen Eisberg backbord und der Nebelbank steuerbord gebildet wurde, immer näher und änderte geringfügig den Kurs, um genau durch die Mitte zu fahren. Das Eis unter Graysons Stiefeln knirschte; er bewegte seine gefühllos gewordenen Füße. Langer versuchte sich aufzuwärmen, indem er die Arme um seinen Körper schlug. Hinter ihnen knallte eine Tür zu; Da Silva war auf die Brücke zurückgegangen; jetzt waren sie mit dem wachhabenden Matrosen allein.
Langer beobachtete Beaumont, der mit dem Ellbogen auf der Reling lehnte, durch das Glas starrte und es dabei langsam nach Steuerbord schwenkte. Offensichtlich irritierte Beaumont die riesige, undurchdringliche Nebelbank. Sie war jetzt weniger als fünfhundert Meter entfernt und zwang die Elroy in den Engpaß zwischen sich und dem Eisberg.
»Was ist das in dem Nebel weiter südlich vor Steuerbord?« rief Grayson.
Beaumont hatte die große Masse schon im Visier, die wie ein schwimmender Felsen aus dem Nebel kam. Es war der Hohleisberg, der ihnen einen trügerischen Eindruck von festen Klippen bot. Sie waren jetzt in dem Engpaß mit dem Plateaueisberg backbord angelangt. Beaumont sah kurz zur Nebelbank hinüber. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Der Bug der Revolution durchbrach den Nebel und steuerte wie ein Schlachtschiff auf sie zu.
»Das amerikanische Schiff steuert direkt Süd.«
»Halten Sie sich bereit«, befahl Papanin Tuchewsky.
Die Revolution war vom Nebel verschluckt, der direkt vor dem Brückenfenster hing. Tuchewsky neigte sich tiefer über den Radarschirm, beobachtete das Schattenbild und entdeckte plötzlich die sich nähernde Elroy. Er mußte Maßarbeit leisten – er mußte ein riesiges Schiff genau im richtigen Augenblick aus dem Nebel bringen –, wenn er nicht versagen wollte.
»Kurs beibehalten«, befahl er dem Seemann.
Die Revolution kroch mit niedrigster Geschwindigkeit vorwärts. Das Dröhnen ihrer Motoren wurde vom Nebel gedämpft. Ihr Kurs mußte der Elroy den Weg abschneiden. Tuchewsky blickte unentwegt auf das Schattenbild. Sein Gesicht glänzte von Schweiß; sein Bart war feucht. Er mußte die Geschwindigkeit der Elroy, seine eigene Geschwindigkeit und die Entfernung, die sie trennen würde in dem Augenblick, in dem sie sich gegenseitig entdeckten, einkalkulieren. Er spürte die Anwesenheit des Sibiriers hinter sich.
»Sie müssen sie mittschiffs rammen…«
Der Abtaststrahl in der Manschette zeichnete ununterbrochen Lichtpunkte auf, die laufend die Position der Elroy vermittelten, die sich der Durchfahrt zwischen Nebelbank und dem Eisberg näherte. Tuchewsky hörte Papanins Stiefel ruhelos hin und her tappen. »Sind wir nicht zu langsam?«
»Wollen Sie, daß wir zu früh aus dem Nebel kommen?«
Auf der Revolution herrschte völlige Dunkelheit, kein einziges Licht brannte, aber Papanins Augen hatten sich an das Dunkel gewöhnt. Das Schiff kroch weiter vorwärts. Er konnte gerade noch die Fensterrahmen und etwas Fahles, Verschwommenes dahinter erkennen. Sie hätten in einem vernebelten Hafen sein können, so glatt war die See, so ruhig das Summen der langsam drehenden Schiffsmotoren.
»Momentane Geschwindigkeit beibehalten«, sagte Tuchewsky eintönig.
»Wie lange noch?« wollte der Sibirier wissen.
»So lange wie nötig.«
Papanin kochte, sagte aber nichts. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Sie mußten das amerikanische Schiff beim ersten Anlauf zerstören. Ein vernichtender Schlag aus dem Nebel heraus, Stahl gegen Stahl, den Bug der Revolution in die Steuerbordseite der Elroy hineinbohren, die Elroy glatt durchtrennen. Er stellte sich vor, wie es sein würde – das russische über dem amerikanischen Schiff, es untertauchend, das zerbrochene Heck zu seiner Linken, der zerstörte Bug zu seiner Rechten. Welcher Teil, fragte er sich, würde wohl zuerst untergehen?
»Papanin, gehen Sie zum hinteren Teil der Brücke! Halten Sie sich an der Reling fest!«
Der Sibirier folgte der Aufforderung und hielt sich mit beiden Händen fest, während der Schiffsführer, einer von Papanins Mannschaft, das Steuerrad fester griff. Papanin schaute auf den Nebel vor der Brücke. Wenn es heller wurde, würden sie aus dem Nebel sein und die Elroy vor ihrem Bug sehen. Warum erhöhte Tuchewsky nicht die Geschwindigkeit? Der Kapitän ging vom Radarschirm weg und drückte den Stellhebel auf ›halbe Fahrt‹. Dann ging er zum Radarschirm zurück.
»Gegenwärtigen Kurs beibehalten.«
Ein schwach flackerndes Licht war durch das Brückenfenster zu sehen. Der Nebel lichtete sich, während das Motorengeräusch lauter wurde. Auf der Brücke war es sehr warm, und Papanin wischte sich mit einer kurzen Bewegung den Schweiß von der Stirn. Das Klagelied des Nebelhorns der Elroy, das sie schon früher gehört hatten, wurde sehr laut, es war direkt vor ihnen. Tuchewsky blickte weiter auf den Radarschirm und betete. Dann waren sie aus dem Nebel heraus.
Mondlicht überflutete die Brücke. Die Lichter der Elroy waren blendend hell, direkt vor ihnen. Die Bugwelle der Revolution breitete sich mit der gesteigerten Geschwindigkeit weiter nach Backbord und Steuerbord aus. Der Rumpf des Eisbrechers raste ihnen entgegen. Tuchewsky hielt sich am Radarschirm fest und starrte aus dem Fenster. Nie zuvor hatte er sich mit solcher Intensität auf einen Radarschirm konzentriert – und er hatte alles richtig berechnet. Oder doch nicht? Schneller, um Gottes willen! Er betete, daß der Kapitän der Elroy rechtzeitig reagieren würde, und er versuchte, diesen Befehl dem Gehirn des Amerikaners einzugeben. Geschwindigkeit heraufsetzen! Geht aus dem Weg! Ich gebe euch eine Chance, eine Warnung, bitte – bitte!
Die Elroy fuhr schon schneller. Der Befehl wurde in dem Augenblick erteilt, als die Revolution aus dem Nebel auftauchte. Trotz seiner Erschöpfung hatte Schmidt mit der Entschiedenheit reagiert, auf die Tuchewsky gehofft hatte. Der Russe hielt den Kurs bei, steuerte schnurgerade auf das Ziel, wie es Papanin schien, der hinter der Brücke stand und die Situation nicht exakt abschätzen konnte. Die Revolution raste vorwärts, der Rumpf des amerikanischen Schiffes glitt im rechten Winkel vorbei. Sein Mast überragte die Brücke des russischen Schiffes. Tuchewsky lief zur Steuerbordseite und schaute über die Reling seines eigenen Schiffes nach unten. Er sah die Schraube der Elroy, die das Wasser aufpeitschte. Sein eigener Bug schnitt durch das aufgewühlte Wasser.
»Sie haben sie verfehlt!« Papanin verlor endgültig die Beherrschung. »Das nächste Mal übernehme ich das Kommando!«
Blind vor Wut stampfte er auf die andere Seite der Brücke und fluchte wild auf Tuchewsky, wobei er auf ihn hinunterschaute. Der kleine Kapitän schob ihn zur Seite, Papanin verlor das Gleichgewicht und stolperte. »Sie Idiot – wir werden den Eisberg rammen!« Papanin schrak zusammen, als er aus dem vorderen Fenster blickte. Der riesige Plateaueisberg füllte das Fenster aus.
Beaumont stand am Heck der Elroy, als der Bug der Revolution ihnen entgegenschoß. Ein Zusammenstoß schien unvermeidbar. Die Elroy war dem russischen 16000-Tonnen-Schiff noch mittschiffs zugewandt, als die Bugwelle schon auf sie zurauschte und sein riesiger Bug sich vor die Reling der Elroy auftürmte. Beaumont war noch im letzten Augenblick sicher, daß der Bug die Schraube der Elroy zerschmettern und damit ihren Antrieb zerstören würde. Dann rauschte das russische Schiff hinter dem Heck vorbei und verfehlte sein Ziel nur um Meter. Es raste auf den riesigen Eisberg zu.
»Sie wird den Eisberg treffen«, sagte Grayson.
»Zu schön, um wahr zu sein…«
Beaumont blieb in der Nähe des Hecks, beobachtete den verzweifelten Versuch der Revolution, rechtzeitig zu wenden, sah das hohe Kielwasser hinter ihr, das den extremen Kurs andeutete, zu dem sie gezwungen war, und sah schließlich, daß sie in Sicherheit war. Er erteilte Grayson, Langer und Borzoli knappe Anweisungen und ging direkt auf die Brücke der Elroy. Sein Gesichtsausdruck war düster, seine Stiefel stampften über das Deck. Als er die Brücke erreichte, wandte Schmidt sich von dem hinteren Fenster ab, durch das er geschaut hatte.
»Sie hatten recht, Beaumont«, sagte er kurz. »Sie haben versucht, uns zu versenken.«
»Sie werden es noch einmal versuchen. Sie können nicht schneller fahren als sie.«
»Schneller? Mit meiner Höchstgeschwindigkeit von sechzehn Knoten?«
»Also muß sie möglichst aufgehalten werden. Um der Crew willen, um unser aller willen…«
»Da Silva leistet Ihnen Hilfe mit dem Sprengstoff?« Beaumont starrte Schmidt an, der bedeutungsvoll grinsend nickte. »Glauben Sie, ich wüßte nicht, was sich an Bord meines Schiffes abspielt, Mr. Beaumont?«
»Sie muß aufgehalten werden!« wiederholte Beaumont.
»Ich werde vergessen, dies in das Logbuch einzutragen.« Der Kapitän blickte zu Beaumont auf der anderen Seite der Brücke und sagte nur: »Halten Sie sie auf.«
Das Carley-Floß, das für den Fall, daß ein Schiff aufgegeben werden muß, über Bord geworfen wird, war mit einhundert Pfund Sprengstoff geladen und zur Zündung präpariert. Die Zeitzünder waren angebracht und die Uhren so eingestellt, daß die Detonation nach zehn Minuten erfolgen konnte. Sie waren jedoch noch nicht aufgezogen. Das Floß war jetzt eine potentielle Mine.
Schmidt mußte die Geschwindigkeit erheblich reduzieren, als die Barkasse vom Achterdeck seitlich heruntergekurbelt wurde. Es war ein nervenaufreibender Entschluß gewesen, denn die Revolution, die zwar noch mit einigem Abstand der Elroy folgte, kam immer näher und drohte den Eisbrecher einzuholen. Der Blick von der Brücke nach vorn war kaum ermutigender als der nach hinten. Schwerer Nebel driftete noch steuerbord und verdeckte halb den Hohleisberg, der etwa fünfhundert Meter vor ihnen lag. Backbord war eine ganze Kette von Eisbergen aufgetaucht, die die offene Rinne einengten. In einiger Entfernung direkt voraus standen außerdem zwei sehr große Eisberge zu beiden Seiten der Fahrrinne wie zwei Wachposten vor einem Tor. Es war in der Tat eine Eisberg-Gasse, durch die Schmidt sein Schiff führen mußte.
»Wie lange wird es noch dauern, bis sie uns einholt?« fragte Beaumont Da Silva.
»Ich schätze ungefähr zehn Minuten – aber nur geschätzt.«
»Mir sieht es eher wie fünf Minuten aus«, sagte Grayson düster.
Er runzelte die Stirn und schaute nach Steuerbord. »Schmidt ändert den Kurs – er bringt uns näher an diese Kette von Eisbergen heran.«
»Ich habe ihn darum gebeten«, erklärte Beaumont kurz. »Er wird mehr Abstand zwischen der Elroy und dem Hohleisberg lassen.«
»Damit die Revolution auf der Seite vorbeischlüpfen kann? Er muß verrückt sein…«
»Dann bin ich auch verrückt. Wir steigen jetzt am besten ins Boot.«
Da Silva ging mit ihm über das Deck zu Borzoli und den anderen Matrosen. Sie warteten bei der Barkasse, die an Davitskabeln hing. »Beaumont – ich habe Sie noch immer nicht gefragt, was Sie vorhaben, ich vermute, Sie hoffen, daß dieses Ding direkt unter dem Bug der Revolution in die Luft geht.«
»Das geht nicht – sie hat zuviel Fahrt. Lassen Sie uns jetzt herab – und seien Sie um Himmels willen vorsichtig mit dem Floß, wenn Sie es runterschicken.«
Die ganze Aktion war höllisch und heikel. Die Barkasse, in der Beaumont, Langer und Grayson saßen, mußte mit einer Winde über die Seite des fahrenden Schiffes herabgelassen und dann festgehalten werden, bis das Floß hinzukam. Der ruhige Seegang war das einzige, was ihnen als günstiger Umstand zu Hilfe kam. Mit einem heftigen Klatsch trafen sie auf das Wasser. Sie hielten sich an den Kabeln fest und schauten nach oben. Das Floß war schon unterwegs zu ihnen.
An Deck hatte Langer kurz vorher Da Silva noch gewarnt. »Technisch gesehen kann nichts passieren, wenn das Floß gegen den Rumpf schlägt.«
Er hatte aufgehört zu sprechen und ohne ironischen Unterton hinzugefügt: »Doch der Himmel ist voll von harfenspielenden Sprengstoffexperten, die Ähnliches gesagt haben.«
Die Mine schwebte mit entsetzlicher Langsamkeit auf sie herunter. Sie hing an Seilen, die die Matrosen über ihnen Stück für Stück herabließen. Langer, der ein Windenseil fest umklammert hielt, beobachtete das herabgleitende Floß. Es brauchte nur aus dem Gleichgewicht zu geraten und in Schräglage herunterzukommen, dann konnte es, ganz gleich, wie sicher der Sprengstoff vertäut war, ihre Vernichtung bedeuten. Plötzlich glitt einem Mann das Seil aus der Hand, und die schwere Waffe über ihren Köpfen kippte zur Seite. Wütend und erschreckt zischte Langer durch die Zähne: »Sie werden Papanin seine Aufgabe schon abnehmen.«
Das gekippte Floß schwankte und stieß mit einem dumpfen Aufschlag, der sehr leicht die Ladung^ hätte losrütteln können, gegen den Rumpf des Schiffes. Beaumont schaute am Schiffsheck vorbei und versuchte, seine Ungeduld zu unterdrücken. Die Revolution hatte jetzt ihren Kurs geändert und steuerte schnell auf die offene Rinne zu, in der sie sich an die Steuerbordseite der Elroy heranmachen könnte. Herrgott noch mal, beeilt euch! Seinem Flehen wurde entsprochen – mit entnervender Geschwindigkeit. Das Floß fiel weiter, fast auf ihre Köpfe herunter.
Einen Meter über ihnen kam es ruckartig zum Stehen, immer noch in einem gefährlichen Winkel, wurde dann etwas sanfter herabgelassen. Langer setzte die Uhren in Betrieb – die einzigen Uhrwerke an Bord, die nicht zerstört worden waren, weil sie nicht liefen, als der Hohleisberg sie gerammt hatte. Das Floß wurde über das Heck gehievt und mit Seilen an die Barkasse gekoppelt. Beaumont ließ den Motor an, übernahm das Steuerrad und rief Da Silva etwas zu. Die Windenseile wurden ausgehängt, und mit halber Geschwindigkeit entfernte sie sich von der Elroy, das Floß hinter sich herziehend.
»Ich glaube, wir kommen zu spät«, rief Langer, der zu dem russischen Schiff zurückblickte.
Beaumont gab Gas, und die Barkasse raste über die ruhige See direkt auf den Hohleisberg zu. Sie fuhren im rechten Winkel zu der verschwindenden Elroy und der herannahenden Revolution. Der Nebel teilte sich jetzt und legte den hochragenden Wall aus Eis frei, auf den sie zujagten. Der Eisberg türmte sich vor ihnen auf wie der Rand irgendeines großen Kontinents. Er erschien ihnen jetzt noch größer als vorher, als sie über seine trügerische Oberfläche hinter der Felswand gestiegen waren.
Als sie sich einem Teil des Felsen näherten, den sie früher nicht hatten sehen können, entdeckte Beaumont, daß er an der Basis ausgehöhlt war, daß sich Höhlen gebildet hatten, die im Felsen verschwanden. Jetzt erst war ihm klar, wie der Ozean den See erreichte, den sie auf der andern Seite des Felsens entdeckt hatten: Es gab unterirdische Verbindungen zwischen den Grotten, die zu dem See führten. Fast ohne weitere Überlegung stand sein Entschluß fest.
»Wir gehen näher ran – am Randes des Eisschelf es lassen wir das Floß los«, rief er.
»Wir werden nie zu der Elroy zurückkommen.« Angst lag in Graysons Stimme. »Wir werden sie nie wieder einholen.«
»Das müssen wir riskieren. Ich werde das Floß in einen der Kanäle schieben – dann wird es vielleicht auf der andern Seite des Eisberges detonieren.«
Beaumonts Plan war einfach, aber eine gewagte Sache. Der Hohleisberg war kurz vor dem Zusammensturz. Er hätte eigentlich zusammenstürzen müssen, als er gegen die Bucht schlug, in der die Elroy aufgelaufen war. Erst recht hätte er zusammenfallen müssen, als er sich von dem anderen Eisberg losriß. Aber er war noch intakt, doch jede Stunde, die er weiterdriftete, brachte ihn dem endgültigen Zerfall näher. Es war möglich, daß die Detonation einer großen Menge Sprengstoff in der Nähe des Eises die Katastrophe herbeiführen würde. Unter Umständen würde es aber nicht mehr als ein Kitzel für den Eisberg bedeuten und nur ein paar Pfund Eis lossprengen.
Und trotzdem gab es aktenkundige Fälle, wonach der unbedachte Ruf eines Eskimos in seinem Kajak eines dieser Ungeheuer zersprengt und im Ozean versenkt hatte. Beaumonts Plan, seine einzige schwache Hoffnung, war, den Hohleisberg vor der Revolution zu Fall zu bringen und die Fahrrinne mit kleineren Eisbergen zu verstopfen. Es war tatsächlich ein kühnes Unternehmen mit geringer Aussicht auf Erfolg.
»Wir holen sie ein! Wenn es soweit ist, werde ich selbst das Steuerrad übernehmen«, brummte Papanin. Er stand an dem Klarsichtfenster und beobachtete die entfernte Silhouette der Elroy, die durch Nebelschwaden fuhr. »Sie werden den Maschinentelegraf übernehmen und die Geschwindigkeit kontrollieren«, befahl er Kramer.
»Wir werden nicht genug Raum haben, um irgendwelche Manöver auszuführen«, wandte Tuchewsky ein. Im Gegensatz zu dem Sibirier schaute er ständig abwechselnd von Backbord nach Steuerbord und zurück. Die enorme Größe des herannahenden Rieseneisberges vor Steuerbord imponierte ihm außerordentlich, aber er ahnte noch nichts von seiner Zerbrechlichkeit. »Eine Barkasse ist von dem amerikanischen Schiff abgefahren«, sagte er plötzlich. »Sie überquert die Fahrrinne vor uns…«
»Kümmern Sie sich nicht darum! Geschwindigkeit heraufsetzen…«
»Das ist gefährlich – wir kommen zu nah an den Eisberg…«
»Volle Fahrt!« rief Papanin Kramer zu. »Volle Fahrt…«
Über ihren Köpfen ragte der Felsen senkrecht auf, während die Barkasse sich zwischen Eisschollen in der Nähe des Eisschelfs vortastete, wo der Ozean gegen die Basis des Hohleisberges plätscherte. Mit gedrosseltem Motor schaukelte die Barkasse zwischen den Schollen – ein kleiner Punkt im Windschatten des Eisberges. Zwanzig Meter südlich vor ihnen lag die Öffnung zu einer großen Höhle, und die Strömung floß in den Eisberg hinein.
Beaumont konnte den Verlauf des mondbeschienenen Wassers erkennen und gab laut Befehl. »Floß loslassen!«
Grayson stand mit seinem Messer bereit. Er zerrte an dem Seil, das er mit einer Hand festhielt, während er es mit der anderen zu zerschneiden versuchte. Aber das Durchtrennen der zähen Fäden dauerte länger als erwartet. Hinter ihm unterdrückten Beaumont und Langer mit Mühe ihre Ungeduld. Beaumont schätzte, daß ihnen etwa fünf Minuten bis zur Detonation blieben – aber ohne laufende Uhr war es nicht sicher.
Grayson schnitt wild entschlossen an dem ausgefransten Seil – ein paar letzte Fäden ketteten sie noch an das Floß. Langer fluchte – und versuchte mühsam, sein eigenes Messer aus der Scheide in seinem Parka herauszuholen. Beaumont schaute hilflos zu, denn er konnte es nicht riskieren, das Steuerrad loszulassen. Die gewölbte Öffnung kam näher. Langer fand das Messer, zog es heraus und schnitt an dem Seil, das Grayson ihm hinhielt. Die Fasern waren durchtrennt, und das Floß trieb ab. Beaumont gab Gas; das Beiboot brauste mit aufgedrehtem Motor von dem Hohleisberg fort. Die Motoren der Revolution übertönten ihn, als Beaumont die Fahrrinne entlangsteuerte und der Elroy nachjagte, die kaum noch zu sehen war.
Grayson klammerte sich achtern am Dollbord fest. Er schaute nach hinten, um das Carley-Floß zu beobachten, das in der Strömung schaukelte und an dem Grotteneingang vorbeizugleiten schien. Im letzten Moment fing sich das Floß am Eis, saß einen Moment fest und wurde dann von der Strömung hineingesogen und in den Eistunnel geschickt, der zu dem See auf der anderen Seite führte.
»Es ist drin!« rief Grayson den anderen zu.
Beaumont gab jetzt Vollgas, und die Barkasse raste die gefährliche eisübersäte Fahrrinne hinunter. Er mußte das Steuerrad herumreißen und verfehlte eine größere Eisscholle um Zentimeter. Immer mehr Eis tauchte auf, kleine Schollen, die im Mondlicht schwappten, und kleine Eisberge, die mit der Eisbergkette vor Backbord drifteten. Hohe Geschwindigkeit in solchen Gewässern war höchst gefährlich – und eine hohe Geschwindigkeit war lebensnotwendig für sie. Der Hohleisberg zeichnete sich noch zu ihrer Rechten ab, erstreckte sich weit vor ihnen nach Süden, endlos, wie Beaumont schien. Er gab Vollgas und hatte darum schwer mit dem Steuerrad zu kämpfen.
Ein einzelnes Licht leuchtete weit entfernt am Heck der Elroy, das einzige sichtbare Licht an Bord des Eisbrechers, seitdem Schmidt befohlen hatte, alle Lichter zu löschen bis auf den Scheinwerfer, der die Barkasse zum Schiff zurückführen sollte. Die graue Gischt ihres auslaufenden Kielwassers erschien backbord. Die bitterkalte Luft peitschte ihre Gesichter. Die Barkasse steuerte im Zickzackkurs, um weitere Eisschollen zu umfahren. Hinter ihnen kam die Revolution immer näher und fuhr jetzt neben dem Hohleisberg – sie alle hatten ihre Geschwindigkeit unterschätzt.
»Das Tor schließt sich«, rief Langer Beaumont ins Ohr. In der Ferne veränderte sich die Silhouette hinter der Elroy. Es sah aus, als würde Schmidt zu spät kommen. Die zwei riesigen Eisberge, die den Ausgang aus der Fahrrinne säumten, kamen sich immer näher und waren in einer Gegenströmung gefangen. Bis Schmidt sie erreichte, würde es keinen Ausweg mehr geben. Das Tor schloß sich, wie Langer gesagt hatte.
Beaumont mußte plötzlich einem kleinen Eisberg ausweichen, der aber doch groß genug war, das Dollbord zu zerschmettern, wenn es zum Zusammenstoß käme. Er wich in die entgegengesetzte Richtung aus, um einem zweiten Eisberg zu entkommen; er ging mit der Barkasse um wie mit einem Rennboot. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis sie gegen eine der Schollen krachten, aber das Hecklicht der Elroy war jetzt schon etwas größer und näher. Als er wieder einen Blick nach Steuerbord riskierte, war er überrascht: Sie hatten den Hohleisberg passiert, hatten ihn bereits hinter sich gelassen und brausten davon.
»Mehr Fahrt!« wütete Papanin. »Wir müssen sie einholen!«
Tuchewsky sagte nichts. Er führte nicht mehr das Kommando über sein eigenes Schiff. Hinter dem Steuerbordfenster türmte sich der riesige Eisberg auf, überragte sie, und zum erstenmal bemerkte Tuchewsky die gewölbten Öffnungen an der Wasserlinie.
Hinter dem Eisfelsen hatte das Carley-Floß den Tunnel verlassen und war in den dunklen See dahinter getrieben. Es schwamm um eine Ecke und stieß gegen das Eis. Das Floß war mit Reif bedeckt, der sich im Tunnel auf ihm niedergeschlagen hatte. Es fing sich an einem Eisspier und blieb hängen. Der ausgehöhlte Eisturm ragte steil über ihm in die Luft, der Turm, der den Überhang stützte.
Beaumont war der totalen Erschöpfung nah; er verfehlte eine Eisscholle; aber die Scholle verfehlte nicht die Barkasse. Der Bug prallte gegen einen Eisspier, der unter der Wasseroberfläche schwamm, schnellte hoch, und die Barkasse flog über sie hinweg. Als sie in der Luft hingen, stockte Beaumonts Herzschlag – die Schraube konnte an dem Eis hängenbleiben, abknicken und vielleicht aus dem Boot herausgerissen werden. Die Barkasse fiel zurück ins Wasser; der Spier zerbrach unter dem Aufprall. Er ging unter, als die intakte Schraube über ihm kreiste und dann wieder durch das Wasser quirlte. Hinter dem Eisfelsen detonierte die schwimmende Mine.
Der Eisturm, der den Übergang abstützte, erzitterte. Die wabenartig durchlöcherte Säule brach langsam in sich zusammen und löste Stück für Stück, wobei riesige Mengen von Eis in den See herabfielen. Dann knickte sie in der Mitte ein und brach vollständig auseinander. Das enorme Gewicht des Eises darüber donnerte hundert Meter tief herab und zersplitterte an der Kante des Sees in tausend Stücke, die wie eine Eislawine in den See rutschten. Der Turm und der mächtige Überhang waren verschwunden – und damit der Strebepfeiler, der den Eisfelsen aufrecht gehalten hatte. Jetzt kippte auch der Eisfelsen selbst und löste eines der erschreckendsten Naturschauspiele aus.
Der Felsen fiel nach innen – in die der Revolution entgegensetzte Richtung –, und dieser Anblick von der Brücke des russischen Schiffes aus überwältigte die Männer an Bord. Der ganze Felsen, der noch vor einem Augenblick steil über ihnen geragt hatte, fiel nach rückwärts. Einen Moment lang traute Papanin seinen Augen nicht, dann bemerkte er den entsetzten Gesichtsausdruck des Kapitäns. »Es ist ein Hohleisberg…« Das Tosen des krachenden Eises hallte noch nach, als Tuchewsky sich zusammenriß und das Bordfunksystem einschaltete, das seine Worte über das ganze Schiff verbreitete. »Es gibt keinen Grund zur Panik – kein Grund zur Panik…«
Er täuschte sich; und Beaumont, der die Eisberg-Gasse so gut kannte wie kaum ein Arktisforscher, hätte ihm sagen können, wie furchtbar im Unrecht er war. Das gewaltige Spektakel, das der Russe mit angesehen hatte, war erst der Auftakt zu einem dramatischen Geschehen.
»Das verdammte Biest ist in die falsche Richtung gefallen!« rief Grayson. »Es ist rückwärts gefallen…«
»Haltet euch fest!« brüllt Beaumont zurück.
Das Wasser war jetzt turbulent geworden durch die Wellen, die der Eisberg verursacht hatte, als er an der Wasserlinie vibrierte. Beaumont beachtete das jedoch kaum. Sorge machte ihm vielmehr die Flutwelle. Verzweifelt versuchte er, mehr Geschwindigkeit aus dem dröhnenden Motor herauszuholen. Die Flutwelle würde der endgültigen Katastrophe folgen und von hinten auf sie zuschießen. Wenn sie das Schiff nicht rechtzeitig erreichten, würde die Welle sie überrollen.
Die Revolution blieb auf Kurs und fuhr noch neben dem zerbrochenen Eisberg, als das Ungetüm das Gleichgewicht verlor. Der ehemals hochaufragende Felsen am einen Ende des Eisberges war plötzlich verschwunden und über ein großes Gebiet verstreut. Die übriggebliebene riesige Plattform mit einer Länge von fast fünfhundert Metern schlug um. Der Felsen, der über der Oberfläche zu sehen gewesen war, schien immens gewesen zu sein, aber er war nichts im Vergleich zu der Masse, die unter der Wasseroberfläche verborgen lag. Dieser Unterwasser-Eisberg tauchte jetzt aus der See herauf wie ein Urheber einer Erdoberflächenverschiebung. Riesige Kaskaden von Wasser schossen auf ihm herab wie die Niagarafälle.
Die See selbst begann zu brodeln und zu schäumen, als ob sie spürte, was aus der Tiefe heraufkam. Riesige Eisklippen aus gefrierenden Kaskaden türmten sich hoch über der Brücke der Revolution auf, wo Papanin und Tuchewsky voller Entsetzen das Geschehen beobachteten. Die Wasserfälle überfluteten das Schiff, und Eisbrocken, größer als Wohnhäuser, zerschmetterten am Rumpf, rissen Stücke aus der Reling, die zurückblieb wie eine ausgezackte Zahnreihe. Der Eisberg wälzte sich weiter. Millionen Tonnen Eis waren in Bewegung und türmten sich hoch auf, während er seine Massen um hundertachtzig Grad kippte.
»Mein Gott! Als ob der ganze Meeresboden hochkäme!« Grayson war von dem Anblick erschüttert. Die Barkasse raste immer näher auf die Elroy zu, und Beaumont, der nur ein einziges Mal zurückschaute, konzentrierte sich einzig und allein darauf, zur Elroy zu gelangen. Die Flutwelle konnte jede Sekunde anrollen. Sie mußten das Schiff unbedingt rechtzeitig erreichen. Hinter ihnen kippte der Hohleisberg endgültig um.
Er schwankte, baute sich über der Revolution auf, und dann krachten Millionen Tonnen Eis herab wie ein Bergmassiv. Auf der Brücke des russischen Schiffes sah man nur einen riesigen, rotierenden Schatten. Papanin stand noch auf der Brücke, als der Schatten zuschlug. Eine massive Wand aus Eis stürzte auf die Radarkuppel, die augenblicklich zusammensackte und völlig verschwunden war. Die Brücke wurde auf die Ebene des Decks gequetscht und das Deck unter Wasser gedrückt. Der Bug ging sofort unter, während das Heck nach oben kippte, wie von einem unsichtbaren Hebel gehoben.
Das Heck stieg im steilen Winkel auf, bis es senkrecht stand. Die Schraube rotierte immer noch. Zwei Drittel des Schiffes waren verschwunden, begraben unter dem umstürzenden Eisberg. Das Heck mit der rotierenden Schraube, die jetzt ohne Antrieb langsam auslief, ragte immer noch senkrecht aus dem Wasser heraus. Grayson sah, wie das Heck nur zögernd, einem U-Boot vergleichbar, das senkrecht auf den Meeresboden untertauchen wollte, der versunkenen Hälfte des Schiffes folgte. Dann wurde es von einem Ausläufer des Eisberges getroffen, der es mit einem einzigen wuchtige}! Schlag dreitausend Meter tief auf den Grund der Arktis beförderte. Die Flutwelle rollte heran.
»Springt ab!« rief Beaumont.
Die Barkasse hatte das Heck der Elroy passiert. Beaumont drosselte den Motor und brachte die Barkasse mittschiffs bei. Sie prallte gegen den Rumpf, als Beaumont versuchte, mit gleicher Geschwindigkeit neben dem langsam fahrenden Schiff zu bleiben. Schmidt hatte sie von weitem kommen sehen und die Geschwindigkeit lange vor der Zerstörung der Revolution herabgesetzt. Einige Männer beobachteten sie von der Reling aus. Sie zeigten auf die Strickleitern, die an der Seite des Schiffes herabhingen.
»Springt ab!« rief Beaumont zum zweitenmal.
Langer schnappte eine der baumelnden Leitern und begann hochzuklettern, während Grayson sich die nächste schnappte. Beaumont blieb am Steuerrad, um die Barkasse neben dem fahrenden Schiff zu halten. Hinter dem Heck der Elroy tobte der Ozean. Innerhalb von Sekunden war aus einer ruhigen See ein wildes Chaos geworden. Da Silva warf geschickt eine weitere Leiter über Bord. Sie schlug gegen Beaumonts Brust. Er ließ das Rad los, klammerte sich an die Leiter und fühlte, wie die Barkasse sich unter ihm fortbewegte. Er stemmte seine Stiefel in die schaukelnden Sprossen. Über ihm an der Reling schrie Da Silva ihm zu, er solle sich beeilen.
Die herantosende Flutwelle, die nicht mehr weit vom Heck war, hatte schon eine Höhe von sieben Metern erreicht und wurde von Sekunde zu Sekunde größer. Sie bestand nicht nur aus Wasser. Auf ihrem Weg die Fahrrinne herunter hatte sie riesige Eisschollen zusammengetragen. Sie stürzten mit dem Wellenkamm heran wie mächtige Rammböcke aus Eis, die einen Menschen mit einem einzigen flüchtigen Schlag zermalmen konnten. Langer sprang gerade über die Reling, als Da Silva seine letzte Warnung ausrief. Grayson folgte ihm. Aber irgend etwas für den Mann zu tun, der noch an der Schiffsseite hing – dazu war es zu spät. Das wußte Da Silva.
Als Beaumont die Leiter zur Hälfte hochgeklettert war, schaute er zum Heck und sah eine schäumende grüne Wand, die ihn überragte; er sah einen kleineren Eisberg aus der Gischt auftauchen. Er würde zu Brei zermalmt und vom Rumpf weggefegt werden. Die Flutwelle riß das Heck hoch und schleuderte es mit furchtbarer Wucht in die Luft. Der Bug tauchte unter. Beaumont krallte seine Handschuhe fest um das Seil, grub seine Ellbogen in die Rippen und preßte seinen Kopf zwischen die Unterarme, als er fühlte, wie das Heck in die Luft schoß wie ein Aufzug.
Eine Flut von eiskaltem Wasser ergoß sich über ihn, ein zentnerschweres Gewicht drückte auf seine Schultern und versuchte, ihn von der Strickleiter loszureißen. Es brauste und tobte in seinen Ohren. Irgend etwas rammte mit ungeheurer Wucht gegen den Rumpf neben ihn. Er erbebte von dem Zusammenprall; gleichzeitig prasselten Eissplitter gegen sein Gesicht wie tausend Nadeln. Die Wucht der Welle fegte die Leiter zur Seite und peitschte Beaumont in Richtung des Bugs, wo die Barkasse zerschellt war.
Beaumont war halb erfroren, seine Lungen drohten zu bersten von dem langen Einhalten der Luft. Er war wie gelähmt vor Entsetzen und Grauen, nachdem die Eisscholle so dicht neben ihm zerschmettert war. Er war völlig durchnäßt. Sein Körper war von dem Schlenkern der Strickleiter, die ihn fast bis an die Reling hochschwang, wundgescheuert. Das Tosen in seinen Ohren wurde stärker. Er fühlte, wie ihm die letzten Kräfte schwanden, wie sein Griff an der Leiter immer schwächer wurde, während die See an ihm zerrte und riß. Der Bug kam wieder hoch; die Leiter schwang in die andere Richtung zurück, wobei sein Körper brutal gegen den Rumpf geschleudert wurde. Nur die nackte Angst und sein letzter Funken Selbsterhaltungstrieb hielten ihn bei Bewußtsein und sagten ihm, daß seine erstarrten Hände noch die Leiter umschlossen hielten. Die See fiel zurück, und Beaumont hatte den Eindruck, als würde er stürzen und dabei um seine eigene Achse wirbeln. Das ist Einbildung, du bist noch auf der verdammten Leiter…!
Wie aus weiter Ferne rief eine Stimme ihm immer wieder zu: »Festhalten! Wir holen Sie rauf. Festhalten!« Er schlug sehr hart gegen irgend etwas, dann fühlte er sich plötzlich von mehreren Händen ergriffen. Irgend jemand versuchte, seine Finger zu lösen, die sich noch an die Leiter klammerten. Er öffnete die Augen und sah einen gebrochenen Mast als Schattenbild gegen den mondhellen Himmel. Der Mast peitschte hin und her, und plötzlich fiel etwas herunter auf Beaumont zu und schlug kaum zwei Meter von ihm entfernt dumpf auf das Deck. Der Wachposten war aus dem Ausguck gestürzt. Beaumont glaubte, sich das alles nur einzubilden; aber es war ein toter Matrose, der zwei Meter von ihm entfernt auf dem Deck mit zertrümmertem Schädel lag.
Er war unfähig, sich zu rühren, als sein geprellter und blutbefleckter Körper aufgehoben und eine Treppe hinuntergetragen wurde. Da Silva mußte ihn bitten, seine Worte zu wiederholen, um ihn zu verstehen. »Grayson und Langer sind in Sicherheit«, versicherte ihm der Obermaat. »Alles in Ordnung. Wir sind auf dem Weg nach Hause.« Diesen Optimismus teilte Kapitän Alfred Schmidt in diesem Augenblick keineswegs. Er ordnete jedoch volle Fahrt um jeden Preis an. Der Eisbrecher steuerte mit fast tödlicher Gewißheit seinem Untergang entgegen.
Rundherum trieben Eisberge zusammen, in Gegenströmungen verfangen. Sie drohten die Elroy einzuschließen, deren Motoren nun schneller liefen. Vor allem waren es zwei riesige Eisberge direkt vor ihnen, die Schmidt mit wachsender Besorgnis beobachtete. Die Silhouetten der Eisberge ragten backbord und steuerbord hoch auf, Burgen aus Eis im Mondlicht, die in der gefährlichen schmalen Fahrrinne, durch die die Elroy fuhr, aufeinander zutrieben. Noch fünf Minuten, und sie würden wissen, ob sie es geschafft hatten. Noch fünf Minuten, und sie würden durch das Tor hindurch sein oder zwischen den sich schließenden Eisbergen zermalmt werden. »Volle Fahrt…«
Da Silva kam auf die Brücke, als der Kapitän den Befehl wiederholte, was er bisher noch nie getan hatte. Es sollte dem Ersten Maschinisten unten im Maschinenraum klarmachen, daß es sich um Leben oder Tod handelte. Schmidt wandte seinen Kopf dauernd hin und her, wie bei einem Tennisspiel: backbord, geradeaus, steuerbord. Die Aussicht blieb die gleiche – Eisberge in Bewegung; und jedesmal, wenn Schmidt hinschaute, schienen sie näher gekommen zu sein. Der Bug drängte sich vorwärts, war auf das sich verengende Tor gerichtet und schob riesige Eisschollen zur Seite.
Die Wiederholung desselben Befehls hatte die Dringlichkeit in den Maschinenraum vermittelt, und ohne daß ein weiteres Wort notwendig gewesen wäre, wußten die Männer unten, was los war. Der Erste Maschinist starrte auf die Reihe der Meßinstrumente, aber seine Gedanken waren nicht bei dem Schiff. Er stellte sich die grausamen Eisklauen vor, die ihnen entgegenkamen, und die ungeheure Wucht, wenn das Eis auf Stahl traf. Er stellte sich vor, wie der Rumpf nach innen brach, der Eisklotz sich hindurchbohrte und wie unmittelbar die Überschwemmung folgte. Die Mannschaft im Maschinenraum beobachtete ihn; er versuchte also, eine gleichgültige Miene aufzusetzen. Sie würden natürlich nie rechtzeitig herauskommen. Der Maschinenraum war der Friedhof eines Schiffes. Wie schon bei anderen Gelegenheiten, schwor er sich wieder einmal, nie wieder zur See zu fahren, wenn er diesmal heil davonkommen sollte.
Zu beiden Seiten des Buges lagen die Eisberge so nah beieinander, daß es aussah wie die Einfahrt in einen schmalen Fjord oder in den Isthmus von Korinth, wo zu beiden Seiten steile Felswände hochragen – nur, daß es sich hier um Eis wände handelte, die außerdem auch noch in Bewegung waren. Schmidt starrte geradeaus, weigerte sich, noch einmal zur Seite zu schauen. Er spürte, daß Da Silva, der Schiffsführer und der wachhabende Offizier entsetzt zu ihm herübersahen. Er zog ein Taschentuch aus seiner Tasche, betupfte seine Stirn und sagte beiläufig: »Ein bißchen warm, nicht wahr?« Er hätte eine Flasche aus dem Brückenfenster werfen und achtern vor Backbord den Eisberg treffen können. Das Vordeck lag im Dunkel, im Schatten der Eisberge. Da Silva, der seine Hände verkrampft hinter dem Rücken verschränkt hielt, hätte vor Anspannung schreien können; aber Schmidts aufrechte Gestalt, seine jüngste Bemerkung und seine Weigerung, weder nach Backbord noch nach Steuerbord zu sehen, gaben ihm Selbstbeherrschung. Genau wie der Kapitän, starrten die anderen Männer auf der Brücke mit steinernem Blick geradeaus.
»Schauen Sie durch das hintere Fenster, Mr. Da Silva«, forderte Schmidt ihn auf.
»Wir sind durch! Wir sind durch das Tor!«
»Kurs beibehalten.«
Am Himmel vor ihnen schien ein schwaches kaltes Licht – die Sonne, die in die Arktis zurückkehrte und von der auch der blasseste Schimmer seit Tagen von der schweren Wolkenbank geschluckt worden war. Da Silva sah noch einmal durch das hintere Fenster. Die Passage zwischen den Eisbergen war so schmal, daß sie nicht einmal mehr eine Barkasse hätten passieren können. Die Silhouetten verschmolzen ineinander, und ein entsetzlicher Knall hallte über den Ozean, ein furchtbares Krachen und Tosen, als die Eisberge gegeneinanderprallten. Ein donnernder Widerhall breitete sich über die ganze Arktis aus. Da Silva zuckte zusammen, als er Schmidts Stimme wahrnahm.
»Volle Fahrt voraus. Wir fahren nach Hause!«
Am Mittwoch, den 7. März, ging Beaumont in Quebec an Land. Er humpelte mit Hilfe eines Stockes die Gangway herunter. Sein Gesicht war so gründlich mit Verbänden umwickelt, daß nur seine Augen, trostlose, unnahbare Augen, zu sehen waren. Schmidt Grayson und Langer lehnten aus einem der Brückenfenster, um ihm nachzusehen; aber er schaute sich nicht um, als er sich zum Deck schleppte. Matrosen, die ihm zuwinken wollten, säumten schweigend die Reling, aber er warf ihnen noch nicht einmal einen Blick zu.
Es war kalt an diesem Märztag, der inzwischen lange vorbei ist. Eis trieb im St.-Lorenz-Strom, Schnee glitzerte auf den Dächern des Hotels Château Frontenac. Lemuel Dawes und Adams, die auf Beaumont warteten, eilten ihm entgegen, zögerten aber, als der große, starkgebaute Engländer sie aus seiner Vermummung heraus anstarrte. Beaumont schüttelte ihnen steif und kurz die Hand. »Ich muß weg«, brummte er. »Grayson kann Ihnen die gewünschten Details geben – und ich habe einen Bericht für Sie geschrieben.«
Er holte den Bohrkern aus seinem Parka und überreichte ihn Dawes. »Was Sie suchen, befindet sich in diesem Kern – heben sie das obere Stückchen des Steins mit einem Messer heraus, dann haben Sie es.« Er sprach nicht weiter, als Dawes den Bohrkern nahm. Dann sagte er nur noch: »Ich hoffe, es hat sich gelohnt – eine Menge Männer sind dafür gestorben.«
Bevor Dawes antworten konnte, humpelte er davon, an dem Regierungsflugzeug vorbei, und stieg in ein Taxi. »Flughafen«, sagte er zum Fahrer. Er schwieg während der ganzen Fahrt und starrte aus dem Fenster, ohne wahrzunehmen, was an ihm vorüberzog. Als sie sich dem Flughafen näherten, fragte er lediglich: »Wissen Sie zufällig, wann der nächste Flug nach Miami geht?
Nachspiel. Mai bis Juli 1972
Die Eisinsel Target 5 driftete weiter südlich in die Eisberg-Gasse hinein, ihrer Zerstörung entgegen. Am 7. März, dem Tag, an dem Beaumont in Quebec an Land ging, landete ein Transporter vom Typ C-130 sicher auf der Piste und kam einige Meter vor dem ausgebrannten Wrack seines Vorgängers zum Stehen. Die Gefahr einer ähnlichen Katastrophe, wie sie der früheren Maschine widerfuhr, bestand nicht mehr, denn die Steine waren von der Piste verschwunden.
Die Männer, die aus dem Flugzeug stiegen, beeilten sich, die in Kisten verpackte Ausrüstung an Bord zu bringen. Die Nähe der Insel zur offenen See machte sie nervös. Der Nebel drohte sich wieder zusammenzuziehen. Als sie die Leiche Matthew Conways unter dem zertrümmerten Schneepanzer fanden, nahmen sie an, daß er im Nebel von der Rampe herabgestürzt war. Sie luden die Leiche schnell in die Maschine. Später wurde sie zur Beisetzung nach Cincinnati geflogen. Den Männern war nur eins unverständlich: Sie konnten keine Spur von Rickard, dem Funker, oder von Sondeborg, dem Schwerkraftspezialisten, finden. Ihr Verschwinden war ein Rätsel geworden.
Im Mai besuchte der amerikanische Präsident Moskau. Eines der abgeschlossenen Abkommen besagte, daß es kein nahes Beschatten – das zu einem Zusammenstoß führen könnte – mehr geben dürfe zwischen amerikanischen und russischen Schiffen. Niemand außerhalb der Regierungskreise fragte sich, warum zu diesem Zeitpunkt ein solches Abkommen unterzeichnet wurde, da Beinah-Kollisionen zwischen amerikanischen und sowjetischen Schiffen, die einander nachspionierten, seit Jahren an der Tagesordnung waren, obwohl in der Presse selten davon berichtet wurde.
Ebenfalls im Mai zerbrach Target 5, die sich schon früher in vier Stücke gespalten hatte, weiter in acht einzelnen Eisplatten, die zwischen Grönland und Island trieben. Amerikanische Flugzeuge aus Keflavik beobachteten in erster Linie das Fragment, auf der die Baracken standen. Als dichter Nebel sie wieder einhüllte, verloren sie die Insel zwei Monate lang aus den Augen.
Im Juli meldete ein dänisches Linienschiff, das vor Frederikshab an der Westküste Grönlands kreuzte, daß es eine Eisscholle mit Gebäuden darauf gesichtet hatte. Polizeiboote wurden vom Hafen ausgeschickt, und die Passagiere an Bord des Schiffes konnten von der Reling aus beobachten, wie die Polizei in die noch intakten Baracken eindrang. Es war Inspektor Gustaffson, der in die Forschungsbaracke hineinging und sie eingehend untersuchte. Als er die Bretter über dem Bohrloch abhob, war ein vier Monate altes Rätsel gelöst.
Jeff Rickard und Harvey Sondeborg lagen erfroren auf den unteren Bohlen, die das Loch zudeckten, das in das arktische Wasser führte. Es wurde eine Autopsie durchgeführt, und man kam zu dem Schluß, daß Rickard wahrscheinlich von Sondeborg umgebracht worden war. Sondeborg hielt noch einen Eisstichel in der Hand, als die Leichen entdeckt wurden. Gustaffson folgerte weiter – Beweise hatte er nicht –, daß Sondeborg seinen Landsmann getötet und versucht hatte, die Leiche in dem Loch zu verstecken.
Gustaffsons Meinung nach hatte Sondeborg vorgehabt, die Leiche unter die zweite Plattform in das Eis fallen zu lassen, war aber ausgerutscht und selbst gestürzt und schließlich an den Verletzungen neben seinem Opfer gestorben. In Washington wurde Gustaffsons Bericht als unglaubwürdig zu den Akten gelegt. Mit Sicherheit wird man nie wissen, auf welche Weise die zwei Männer ums Leben kamen.
Es war Juli, als ein Londoner Schiffahrtskorrespondent sich mit einer routinemäßigen Anfrage an die sowjetische Botschaft auf Kensington Palace Garden wandte. Er suchte Material für einen geplanten Artikel über moderne Schiffe und erbat Informationen über den gegenwärtigen Aufenthaltsort der Revolution. Er hegte die leise Hoffnung, eines Tages vielleicht das Paradestück besichtigen zu dürfen. Der sowjetische Beamte, der ihn empfing, zog einen Vorgesetzten zu Rate und teilte dann dem Journalisten mit, daß die Revolution zu erheblichen Instandsetzungsarbeiten in einen Hafen am Schwarzen Meer zurückgekehrt sei. Sie sei offenbar bei Forschungsarbeiten in arktischen Gewässern mit einem Eisberg kollidiert.
Und es war ebenfalls im Juli 1972, daß in Reykjavik auf Island die Schachweltmeisterschaft zwischen Spassky und Fischer stattfand, ein Wettkampf, dem ein gewisser Igor Papanin beiwohnen sollte, offiziell als einer von Spasskys Schachberatern, inoffiziell als der Chef für Sicherheitsfragen für die Dauer des Wettkampfes. Ein anderer Mann, auf beiden Gebieten weniger qualifiziert, nahm in aller Stille seinen Platz ein.
* Alle größeren schwimmenden Stützpunkte der UdSSR in der Arktis tragen die Bezeichnung »Nordpol« mit einer Kennziffer. Ein so bezeichneter Stützpunkt kann Hunderte von Kilometern vom Pol selbst entfernt driften.
** Sehr große Eisinseln, die in der Arktis driften, nennen die Amerikaner »Targets« (deutsch: Zielscheiben). T1 = Target 1, die erste Eisinsel, die bekannt wurde, wurde zum erstenmal am 14. August 1946 von dem Funker eines Superfortress-Bombers vor der kanadischen Arktisküste gesichtet
* Sosus und Caesar: amerikanische Bezeichnung für das Unterwasserortungssystem von Kabeln und Sonar-Bojen, das Unterseeboote in großer Tiefe unter dem Polareis auf vorbestimmtem Kurs entlangleitet.
* Sowjetischer Verteidigungsminister.
* Das Serbsky-Institut ist darauf spezialisiert, politische Nonkonformisten für geisteskrank zu erklären. Allein die Androhung dieses Instituts reicht aus, viele Leute bei der Parteilinie zu halten.